Divina Commedia: Stufen der Selbst- und Gotteserkenntnis

Seelenreisen werden in der apokalyptischen Literatur seit der Antike dargestellt, wobei äußerer Kosmos und innere Seelenlandschaft ineinander übergehen. Dantes große Dichtung, die man später ‚heilig‘ oder ‚göttlich‘ nannte, erklärte am Ausgang des Mittelalters den Sinn des Lebens auf der Grundlage des streng hierarchischen Ordnungsgefüges des aristotelisch-ptolemäische Weltbildes und der Theologie des hl. Thomas von Aquin, aber auch der neuplatonischen Philosophie. Die drei Jenseitsbereiche Inferno, Purgatorio und Paradiso versinnbilden ein gestuftes Ab- und Aufstiegsschema zwischen Finsternis und Licht, unbeweglicher Starre und höchster Bewegung.

Dante baut in 3 x 33 Gesängen zu je drei Zeilen (und einem Prolog) die Welt als Spiegel des drei-einen Gottes, der neun Engelhierarchien des Dionysius Areopagita (um 500) sowie der 33 Lebensjahre Jesu. Begonnen wird die siebentägige Seelenreise „in der Mitte unseres Lebensweges“ am Karfreitag (8. April) des Jahres 1300: Christi Sieg am Kreuz ermöglicht die gefahrlose Konfrontation mit dem ‚Fürsten der Hölle‘ in der äußersten Tiefe des Höllentrichters und anschließend den Aufstieg zum irdischen und himmlischen Paradies im Durchgang durch die Sphären von Verdammung und Erlösung. Dante und seine Begleiter begegnen dabei über 500 namentlich genannten Personen der näheren und ferneren Zeitgeschichte und Mythologie, denen die Dichtung damit auch ein Denkmal setzt.

Vom Descensus Christi und der Errettung alttestamentlicher Personen (angefangen bei Adam) ist in Inferno 4,46-50 die Rede, so dass die Meinung, es gebe in dem Werk nicht die geringste Andeutung, „dass Christus je diesen danteschen Hades durchschritten hätte“ (H. U. von Balthasar), nicht zutrifft. Allerdings wird bei Dante durch Christi ‚Höllenfahrt’ auch nicht die Menschheit als ganze aus den ‚Fesseln‘ der Unterwelt befreit und herausgeführt, wie es das auch in der Westkirche im 13. Jh. noch gültige Bild der Anastasis nahe gelegt hätte. Wie modifiziert der Dichter die Jenseitsvorstellungen seiner Zeit? Und was ist davon heute noch von Bedeutung?