| Linda Huber | Teilhabe und Soziales

Able- was?!

Ungeachtet diverser - und noch lückenhafter - Gesetze erfahren Menschen mit Behinderung oft strukturelle Diskriminierung. Nötig ist ein gesellschaftlicher Perspektivwechsel.

Von Linda Huber

Menschen mit Behinderung werden im Alltag häufig auf bestimmte Merkmale reduziert, mit denen sie sich von einem vermeintlichen Normalzustand unterscheiden sollen. Oftmals gehen damit stereotype Zuschreibungen über angebliche Fähigkeiten, eine falsche Bewunderung sowie ungerechtfertigte Abwertungen einher. In den Sozialwissenschaften bezeichnet man das als „Ableismus“. Der Begriff, der von der US-amerikanischen Behindertenrechtsbewegung geprägt wurde, leitet sich ab vom englischen „to be able“ („fähig sein“). In Deutschland wird nur selten über „Ableismus“ als Form von Diskriminierung gesprochen, die Bezeichnung selbst ist kaum bekannt.

Die Abendveranstaltung „Able- was?!“ beleuchtete am 30. November 2022 das Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und machte deutlich, wie tief ableistische Denk- und Verhaltensmuster in unserer Gesellschaft verankert sind. Andrea Schöne (Autorin des Buches „Behinderung und Ableismus“), Markus Ewald (Oberbürgermeister a.D. von Weingarten), Jutta Pagel-Steidl (Geschäftsführerin des LVKM Baden-Württemberg) und Borghild Strähle (adis e.V.) diskutierten, wie sich Ableismus im Alltag ausdrücken kann und welche Handlungsspielräume bestehen, um dagegen vorzugehen. 

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Antidiskriminierungsberatung. Mit adis e.V. gibt es hierfür seit etwa zehn Jahren einen professionellen Träger in der Region Reutlingen/Tübingen. Hier wird Menschen geholfen, die direkt oder indirekt von Diskriminierung betroffen sind. Borghild Strähle, selbst Rollstuhlfahrerin, bietet u.a. Beratung mit Peer-Bezug an und spricht im Interview über Ableismus im Alltag sowie über Möglichkeiten, Betroffene zu stärken.

Interview

Frau Strähle, der Begriff „Ableismus“ umfasst viel mehr, als das Wort „Behindertenfeindlichkeit“ ausdrückt, denn nicht jede diskriminierende Handlung gegen behinderte Menschen ist mit Hass oder körperlicher Gewalt verbunden. Wie kann sich Ableismus im Alltag darüber hinaus zeigen? 

Ableismus zeigt sich häufig im Berufsalltag, das fängt schon in der Bewerbungsphase an. Es gibt sehr viele hochqualifizierte Menschen mit körperlicher Behinderung, die immer wieder zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden. In vielen Ausschreibungen – vor allem von öffentlichen Stellen – gibt es den Passus „Menschen mit Behinderung werden bevorzugt eingestellt“. Solche Menschen werden dann zwar zum Bewerbungsgespräch eingeladen, danach kommt aber schnell die Absage, weil es angeblich einen besseren Bewerber oder eine bessere Bewerberin gegeben habe. Für Menschen mit Behinderung ist das sehr frustrierend.

Hier zeigt sich, wie sich die Idee der Leistungsgesellschaft niederschlägt. In „Ableismus“ steckt ja das Wort „able“, d.h. „fähig“. Menschen mit Behinderung werden oft Fähigkeiten abgesprochen. Arbeitgeber:innen haben Angst, dass solche Menschen die geforderten Leistungen nicht erbringen können. So erhalten diese Personen oft erst gar keine Chance, zu zeigen, was in ihnen steckt und dass sie den Anforderungen durchaus gewachsen sind.

Ableismus hat folglich viel mit falschen Annahmen und Stereotypen zu tun. Können Sie ein Beispiel aus Ihrer Beratungstätigkeit nennen, wo der oder die Ratsuchende mit ableistischen Denkmustern oder Verhaltensweisen konfrontiert war?

An uns hat sich beispielsweise eine blinde Frau gewandt, der mit ihrem Assistenzhund der Eintritt in ein Café verweigert wurde. Hunde müssten aus Hygieneschutzgründen draußen bleiben. Mit einem analytischen Dreischritt, den wir in der Beratungspraxis nutzen, konnten wir prüfen, ob eine Benachteiligung aufgrund eines Merkmals vorlag und ob es einen sachlichen Rechtfertigungsgrund dafür gab, dass der Assistenzhund nicht ins Café durfte. Es zeigte sich, dass es ein neues Gesetz gibt, nach dem Assistenzhunde wie ein Hilfsmittel angesehen werden. Man kann zum Beispiel auch einem Rollifahrer den Rollstuhl nicht  aus Hygienegründen wegnehmen, der gehört zur Person dazu. Genauso verhält es sich mit dem Assistenzhund. Der kann nicht mit einem „normalen“ Hund gleichgesetzt werden. Ich habe dann schriftlich die Besitzerin des Cafés über die Sachlage aufgeklärt. Sie hat sich daraufhin bei mir und der Ratsuchenden entschuldigt und die Ratsuchende auf ihre Kosten zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Sie wusste nicht, dass es das Gesetz gibt. Assistenzhunde wird sie künftig ins Café lassen. Das ist natürlich schön, wenn man sieht, dass es Erfolg haben kann, sich gegen Ungleichbehandlung zu wehren.

Das Beispiel zeigt sehr gut, dass hinter Ableismus nicht immer eine aggressive Ablehnung steckt. Ableismus findet sich nicht nur auf Ebene alltäglicher Begegnungen, auch Strukturen und Systeme können ableistisch sein. Zeigt sich das auch in Ihrer Beratungstätigkeit?  

Momentan berate ich einige Referendarinnen mit Behinderung, denen nahegelegt wurde, ihr Referendariat abzubrechen, da sie anscheinend nicht geeignet für den Lehrerberuf seien. In einem Fall wurde mitgeteilt, die Schule sei behindertengerecht. Aber die Referendarin, die im Rollstuhl sitzt, kam aufgrund von Treppen nicht selbstständig ins Lehrerzimmer, weshalb man ihr einen eigenen Raum zugewiesen hat. Anschließend wurde ihr vorgeworfen, sie würde sich nicht an den schulischen Aktivitäten beteiligen. Dabei hatte sie gar keine Chance, in den Austausch mit ihren Kolleg:innen zu treten. Oder ihr wurde vorgeworfen, sie könne nicht mit Medien umgehen. Aber um beispielsweise den Beamer im Klassenraum anzuschalten, musste man auf einen Tisch steigen. Das war für sie natürlich nicht möglich.

Das ist ein Beispiel dafür, dass der Bildungssektor sich nicht darauf einstellt, dass es Menschen mit Behinderung gibt, die als Lehrkraft arbeiten möchten. Das ist absurd, denn in Baden-Württemberg wird der Inklusionsgedanke im schulischen Bereich eigentlich als sehr wichtig eingeschätzt. Schulen würden von Lehrkräften mit Behinderung unglaublich profitieren, denn Schüler:innen würden Vorbilder bekommen und sehen, was mit Behinderung alles möglich ist. Es fehlt das Bewusstsein, dass sich nicht die Menschen an das System anpassen müssen, sondern das System sich an Menschen, die vielleicht nicht dem Normalitätsanspruch entsprechen. Aber es fehlt uns an Möglichkeiten, gegen dieses System vorzugehen. Ein Brief, den wir ans Regierungspräsidium geschrieben haben, um aufzuzeigen, wo die Diskriminierung im geschilderten Beispiel liegt, wurde abgeschmettert.

An dieser Stelle kommt der Gesetzgeber ins Spiel. 2021 haben sich über 60 Verbände und Organisationen der Forderung nach einem Landesantidiskriminierungsgesetz für Baden-Württemberg angeschlossen. Auf welche rechtliche Grundlage kann man sich bislang beziehen, wenn man Diskriminierung erlebt, und was genau würde ein Landesantidiskriminierungsgesetz darüber hinaus bewirken?

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umfasst weitreichende Maßnahmen, wenn es aufgrund einer Diskriminierungskategorie zu Belästigung kommt. Dann muss der Arbeitgeber geeignete Maßnahmen ergreifen, dies zu unterbinden. Das AGG gilt für alle „Massengeschäfte“ wie Fitnessstudios, Geschäfte, Banken, Freizeitparks oder Cafés, also für alle Orte, wo Verträge abgeschlossen werden, und es bezieht sich auf das Arbeitsrecht.

Aber – das ist ein großes Manko – es gilt nicht für die öffentlichen Behörden und Ämter wie das Ausländer-, Arbeits- oder Bürgeramt, und auch nicht für Bildungseinrichtungen. In Baden-Württemberg gibt es deshalb die Forderung nach einem Landesantidiskriminierungsgesetz, das diese Lücke schließt. In Berlin gibt es ein solches Gesetz schon, in Baden-Württemberg ist es im Koalitionsvertrag verankert und soll hoffentlich zum nächsten Jahr verabschiedet werden. Dann hat man auch die Möglichkeit, sich gegen Diskriminierung in öffentlichen Einrichtungen wie im Bildungssektor zu wehren.

Um gegen Ableismus vorzugehen, braucht es nicht nur auf gesetzlicher Ebene Veränderungen, sondern vor allem ein Umdenken auf vielen Ebenen. Sie sind über adis e.V. im Bundesmodellprojekt „Amplifying Voices“ tätig. Was ist Ziel des Projektes und inwiefern können solche Projekte Ihrer Meinung nach dazu beitragen, gegen Ableismus vorzugehen?

Das Projekt wird im Rahmen von „Demokratie leben!" gefördert. Zugrunde liegt der horizontale Ansatz der Antidiskriminierungsberatung, d.h. alle Diskriminierungskategorien werden gleichberechtigt in den Blick genommen. Das Projekt richtet sich an betroffene junge Menschen. Sie werden in politischen Prozessen und Entscheidungen oftmals nicht wahrgenommen. Wir arbeiten dabei auf zwei Ebenen: Junge, marginalisierte Menschen sollen gestärkt und ermutigt werden, sich politisch zu engagieren. Gleichzeitig braucht es auf Seite der Kommunen die Bereitschaft, Formen der politischen Partizipation zu schaffen, die für alle Jugendlichen passend sind – noch beteiligen sich zum Beispiel in Jugendgemeinderäten vor allem weiße Jugendliche aus der Mittelschicht.

Ein Beispiel: Tübingen hat vor rund 10 Jahren die „Erklärung von Barcelona" für eine barrierefreie Stadt unterschrieben. Im letzten Jahr wurde die Zielsetzung konkretisiert und geschaut, was noch getan werden muss. Wir waren mit adis e.V. am Prozess beteiligt und haben überlegt, wie junge Menschen mit Behinderung ihre Stimme einbringen können, damit ihre Belange gehört werden. Wir haben mit jungen Menschen gesprochen, welche Verbesserungsmöglichkeiten sie sehen. Es kam zum Beispiel heraus, dass sie nur zu wenigen Clubs und Bars Zugang haben, weil diese meistens nur über Treppen erreichbar sind. Sie möchten aber gerne mit nichtbehinderten Jugendlichen in Kontakt kommen. Außerdem haben wir in einer kleinen Empowerment-Gruppe mit Menschen mit Behinderungen auf kreative Weise überlegt, was für sie die Welt lebenswerter macht. Dazu haben wir Bälle bemalt. Die Teilnehmer:innen konnten darauf schreiben, was ihnen im Leben wichtig ist. Die Bälle wurden dann in Tübingen und Reutlingen ausgestellt. Es geht uns darum, neue Formen zu finden, wie Menschen ihrer Stimme Gehör verschaffen können.

Freiberuflich arbeiten Sie auch als Selbstbehauptungstrainerin für Frauen und Mädchen mit Behinderung. Warum ist es wichtig, dass gerade diese Gruppe gestärkt wird? Zum Beispiel auch, weil sie aufgrund ihres Geschlechts eine mehrfache Diskriminierung erfahren?

Die Selbstbehauptungstrainings stellen den Empowerment-Aspekt zur Stärkung von Mädchen und Frauen in den Fokus. Frauen und Mädchen mit Behinderung sind leider weitaus häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als nichtbehinderte Frauen. Ihnen wird weniger zugetraut, und sie werden als leichtere Opfer angesehen. Einige Menschen mit Behinderung sind aufgrund ihres Pflegebedarfs von anderen Personen abhängig oder wohnen in stationären Einrichtungen. Häufig haben sie das Gefühl, sie dürften sich gar nicht wehren, weil ihnen dann nicht mehr gut geholfen wird. Oftmals fehlt ihnen das Selbstbewusstsein, für sich einzustehen und dafür, dass auch in Pflege und Betreuung ihre Grenzen gewahrt werden. Das zeigt, welche Auswirkungen der Ableismus haben kann. Wir sprechen von „internalisiertem Ableismus“, d.h. dass viele Menschen mit Behinderung glauben, sie seien weniger wert als nichtbehinderte Menschen. Viele denken, sie dürften sich nicht wehren und ihre Stimme erheben, sondern müssten lieb und nett sein. Aber wir sagen: Ihr dürft auch mutig, laut und selbstbewusst sein! Wir wollen mit den Selbstbehauptungstrainings das Selbstvertrauen der Frauen und Mädchen stärken und ihnen klarmachen, dass sie das Recht haben, sich zu wehren: erst einmal verbal, aber auch, dass es möglich ist, sich körperlich zu wehren. Es stärkt die jungen Frauen sehr, wenn sie erkennen, dass sie ihren Rollstuhl auch als Waffe einsetzen können – es tut nämlich ganz schön weh, wenn man jemandem gegen das Schienbein fährt.

Haben Sie Tipps, was wir alle tun könnten, um gegen aktiv gegen Ableismus in unserer Lebenswelt vorzugehen?

Wenn wir Antidiskriminierungsworkshops geben, beziehen wir uns sehr gerne auf den Ausspruch der US-amerikanischen Schriftstellerin Pat Parker, die einmal den Rat an ihre weißen Freund:innen formulierte: „Für die Weiße, die wissen möchte, wie sie meine Freundin sein kann. Erstens: Vergiss, dass ich schwarz bin. Zweitens: Vergiss nie, dass ich schwarz bin.“ Das passt eigentlich auf alle Diskriminierungsformen. Man könnte auch sagen: „Vergiss, dass ich behindert bin, vergiss nie, dass ich behindert bin.“ Der erste Teil des Satzes drückt aus: „Nimm mich in meiner ganzen Person wahr, mit meiner ganzen Biographie und meinen Erfahrungen.“ Dann ist die Behinderung nur ein ganz kleiner Teil der Persönlichkeit und Lebenswelt. Aber gleichzeitig wird mit dem zweiten Teil gesagt: „Sei Dir bewusst, dass ich Erfahrungen mache, die Du als nichtbehinderte Person nicht machst, und setze Dich dafür ein, dass sich etwas ändert.“ Es gibt nun einmal strukturelle Diskriminierung, es gibt Ableismus. Es ist wichtig, dass nichtbehinderte Menschen einen Perspektivwechsel eingehen und zuhören. Fragt Menschen mit Behinderung „Wie lebst Du? Was brauchst Du? Wo liegen Benachteiligungen? Wie kann ich Dich unterstützen?“ Wenn sich nichtbehinderte Personen der eigenen Privilegien bewusst sind, wenn in Gesprächen ein gegenseitiges Verständnis besteht und nicht über, sondern mit behinderten Menschen gesprochen wird, ist schon viel erreicht.

Andrea Schöne
Borghild Strähle (adis e.V.)