| Geschichte und Politik
Jüdische Geschichte

Aufstrebende Mägde

Die jüdische Bevölkerung vergangener Zeiten erscheint häufig als homogene soziale Einheit. Sie war es aber nicht. Eine Forschungsreise auf schwierigem Terrain.

Von Dominic Scheim

Zum 12. Mal tagte das Interdisziplinäre Forum Jüdische Geschichte und Kultur der Frühen Neuzeit zwischen dem 17. und 19. Februar 2023 in Stuttgart-Hohenheim. Mit dem Titel „Soziale Differenzierung jüdischer Lebenswelten“ wurde an sozialgeschichtliche Fragestellungen angeknüpft und versucht, die Stellung von Jüdinnen und Juden innerhalb ihrer Gemeinde und der Gesellschaft nachzuzeichnen. Damit widmete sich die Tagung einer Thematik, die Anschluss für viele interdisziplinäre Forschungsansätze bietet, da Narrative zur  Frühen Neuzeit die jüdische Bevölkerung von damals oft zu einer homogenen sozialen Einheit verschmelzen lassen. Selbstzeugnisse sind – außer von wohlhabenden „Hofjuden“ – nur wenige überliefert.

Bereits in ihrer Einführungsrede stellte Cornelia Aust die entscheidende Frage: die nach dem Maßstab für soziale Stellung. Gelehrsamkeit und Vermögen, so führte sie aus, könnten zwar  einen Anhaltspunkt geben, aber nicht automatisch Gleichheit oder Ungleichheit ausdrücken. Auch Kleiderordnungen, Ämter, Berufe, Familienstand und literarische Erwähnungen könnten lediglich Hinweise geben, nicht aber die Grundfrage beanworten.

Ferner lässt sich, wie Rahel Blum ausführte, auch zwischen zwei Gemeinden nur schwer ein Vergleich ziehen. Anhand ihrer Gegenüberstellung der jüdischen Gemeinden in Darmstadt und Frankfurt am Main zeigt sich, dass allein die Definition einer „Oberschicht“ für beide Städte getrennt vorgenommen werde muss, da die durchschnittlichen Vermögensverhältnisse eklatante Differenzen aufweisen. Auch die Ämter innerhalb der jüdischen Gemeinden, so Blum,  ließen sich nur schlecht für eine soziale Differenzierung heranziehen. Dies liege vor allem daran, dass auch nicht-vermögende Gemeindemitglieder in Ämter gewählt wurden. Umgekehrt  gab es Phasen, in denen Wohlhabende sich sträubten, überhaupt ein Amt zu übernehmen. Vielmehr sei für ein Amt die Familienzugehörigkeit ausschlaggebend gewesen. Auch stellte Blum fest, dass viele Entscheidungen in inoffiziellen Gremien gefällt wurden. Diese Gremien seien ebenfalls durch Familienbande zusammengehalten worden und hätten nicht den jüdischen Gemeindegremien unterstanden.

Andere Schlüsse lassen sich hingegen bei der jüdischen Begräbnispraxis in der Frühen Neuzeit ziehen. Nathanja Hüttenmeister zeigte zwar auf, dass auch bei den Bestattungsritualen räumlich enorme Unterschiede existierten, doch konnte sie anhand des jüdischen Friedhofs in Frankfurt am Main nachweisen, welche sozialen Differenzierungen auch noch im Tod vorherrschten. Mit Hilfe der Epigraphik, der Lage der Grabfelder und des Materials des Grabsteines konnte sie rekonstruieren, dass die Familienzugehörigkeit, das Geschlecht, die gesellschaftliche Stellung und die Umstände des Todes ausschlaggebend dafür waren, wo man seine letzte Ruhe fand und welche Art der Erinnerung einem zuteil wurde. Insbesondere bei vermuteten Suiziden oder Abfall vom Glauben wurden die Verblichenen in einem abgesonderten Bereich („Schandecke“) des Friedhofes bestattet. Dennoch stellte Hüttenmeister treffend fest, dass ein schmuckloses Grabmal nicht automatisch auf eine unterprivilegierte Stellung des oder der Verstorbenen schließen lasse. Deshalb müssten bei der Deutung von Ruhestätten zusätzlich wieder die Familie, der Beruf und das Vermögen des Entschlafenen betrachtet werden.

Auch der Blick auf „unsichtbare“ Randgruppen lässt Schlussfolgerungen zur sozialen Differenzierung zu. Rotraud Ries widmete ihren Beitrag jüdischen Mägden, die nur in den seltensten Fällen Selbstzeugnisse hinterlassen haben. Als unverheiratete Frauen hatten sie innerhalb der jüdischen Gesellschaft eine besonders unterprivilegierte Position, da sie weder lesen noch schreiben lernten, sich in einer schlechten wirtschaftlichen Lage befanden und darüber hinaus auch nicht am religiösen Leben der Gemeinde teilnahmen. Einige Mägde suchten ihr Glück im Übertritt zum Christentum. Aus Braunschweiger Aufzeichnungen von Gesprächen, die im Rahmen der Konversion stattfanden, wissen wir, dass dabei nicht nur wirtschaftliche Not eine Rolle spielte. Ein weiterer Punkt war, dass viele Mägde offenbar den Wunsch hatten, sich persönlich im Leben voranzubringen. Dazu gehörten sowohl Lesen und Schreiben, als auch Kenntnisse über den Glauben – nun das Christentum –, da sie von ihrem jüdischen Glauben kaum etwas wussten. Einerseits zeigt die Betrachtung der Mägde damit, dass sie zwar am Rande der jüdischen Gesellschaft standen, andererseits aber ihr Schicksal nicht pessimistisch-deterministisch hinnahmen, sondern bereit waren, sich der Umstände zu erwehren.

Die 24. Tagung des Interdisziplinären Forums Jüdische Geschichte und Kultur der Frühen Neuzeit wird sich vom 16. bis zum 18. Februar 2024 in Stuttgart-Hohenheim mit dem Themenkomplex „Wissenstransfer“ beschäftigen.