| Kunst
Missbrauchs-Ausstellung unterwegs

Betroffene zeigen Gesicht

Studien zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker sind das eine, Gesichter und konkrete Menschen das andere. Seit einem Jahr nun ist unsere Fotoausstellung unterwegs durch Deutschland.

Von Ilonka Czerny

„Betroffene zeigen Gesicht“: Die Fotoausstellung, die sich mit dem sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche beschäftigt, wurde 2022 im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Katholikentag im Tagungszentrum Hohenheim gezeigt. Die Präsentation möchte auf ihre Weise die grundlegende MHG-Missbrauchsstudie von 2018 gewissermaßen anders formulieren und den Opfern von einst mit deren Kinderfotos ein Antlitz verleihen. Die Bilder tragen keine Namen. Wer sie betrachtet, kann Menschen sehen statt Zahlen und Statistiken. Über Präventions- und Interventionsstellen der katholischen Kirche, über Betroffeneninitiativen und diözesane Betroffenenbeiräten wurden Opfer aufgerufen, sich zu beteiligen mit einem Foto aus der Zeit des Missbrauchs und einem persönlichen Text, der schildert, was die sexuelle und spirituelle Gewalt mit ihnen und ihrem Leben gemacht hat. 22 Werke inklusive Texttafeln sind zusammengekommen und konnten präsentiert werden.

Von Anfang an war diese Schau als Wanderausstellung gedacht und wurde dafür auch konzipiert: Sie musste gut transportierbar sein; die Exponate wurden deswegen hinter Glas gesichert, damit sie auch an besucherreichen Standorten besser geschützt sind.

Seit September 2022 tourt sie durch Deutschland. Zunächst wurde sie in Fulda zur Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz gezeigt. Anschließend ging sie ins Bistum Hildesheim und wurde dort an verschiedenen Standorten präsentiert. Im Bistum Münster konnte die Ausstellung im Mai 2023 besucht werden. Das Bistum Osnabrück fragte die Ausstellung für Juni 2023 an. Gezeigt und präsentiert wurde sie von der Steuerungsgruppe der Universität Osnabrück für das Forschungsprojekt „Sexualisierte Gewalt im Bistum Osnabrück“, auch mit dem Ziel, weitere Betroffene anzusprechen, und mit dem Hinweis, sich für das Forschungsprojekt zu melden.

Die Rückmeldungen der Besucher, die die Bild-Text-Kombination bisher gesehen und gelesen haben, waren tief beindruckend und bewegend. Sie fanden die Schicksale der Protagonisten sehr berührend und die Präsentation wichtig für eine bessere Einschätzung und eine persönlichen Einordnung der Missbrauchstaten.

Dr. Jürgen Schmiesing, der Leiter des Forschungsprojektes in Osnabrück, fasste die Stimmungen der Besucher folgendermaßen zusammen: „Es gab Menschen, die bewusst ein zweites Mal kamen, um von ihrer Erschütterung durch die Ausstellung berichten zu können und davon, wie ihr Umfeld auf Berichte über die Ausstellung reagiert habe. Ein häufiger Eindruck war: ‚Das hätte auch ich sein können.‘ Von Mitarbeitenden des Bistums haben wir ebenfalls sehr eindringliche Rückmeldungen erhalten, durchwegs positiv beziehungsweise dankbar. Wie mir zugetragen wurde, zeigten sich sogar Mitarbeitende, die hauptberuflich im sogenannten ,Diözesanen Schutzprozess“ und damit fachlich in der Missbrauchsthematik arbeiten, sehr beeindruckt und emotional berührt.“

Ein Teilnehmer, der die Präsentation bereits dreimal gesehen hat, schrieb der Verfasserin: „Diese Ausstellung bewegt die Menschen. Die Bilder, die Art der Kombination mit den Texten sowie die Aussagen der heute erwachsenen Betroffenen sexualisierter Gewalt wühlen durch ihre Authentizität den Bodensatz der Seele auf. Der Betrachter kann sich nicht verstecken vor der Wahrheit, die hinter diesen Präsentationen liegt. Hier treten die damaligen Objekte der Gier und Gewalt klerikaler Verbrecher als Subjekte auf, als Zeugen einer Welt, welche wir nicht für möglich gehalten haben und welche uns die systemisch Verantwortlichen stets als Ausnahmen und Einzelfälle einreden wollten. Die Gesichter der Betroffenen berichten ungeschminkt über das Erleben der Kinder und die Menschenverachtung eines Systems, das bis heute den Schutz der eigenen Ideologie im Blick hat. Dies erkennen sogar zufällige Besucher der Ausstellung, etwa wenn sie sagen: ‚Jetzt verstehe ich endlich, was gemeint ist, wenn diese Menschen von Missbrauch sprechen. Denn es sind ja Menschen, und nicht geldgierige Abzocker, wie der Pfarrer immer sagt.‘“

Und die Ausstellung „Betroffene zeigen Gesicht“ tourt weiter: Seit 14.9.2023 sind die Originalwerke im Bistum Limburg zu sehen; ein Nachdruck auf Roll Ups wurde vergangene Woche, am 20.9.2023, im Bistum Augsburg eröffnet. Den Verantwortlichen der Bistümer ist es jeweils wichtig, die Präsentationen auch an weiteren Standorten ihrer Regionen zu zeigen, damit diese ausdrucksstarken Bild/Text-Zeugnisse viele Besucherinnen und Besucher erreichen und ein besseres Verständnis für die Betroffenen erzielt werden kann.

Ilonka Czerny
 

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