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Ausstellung

Blick in den Abgrund

In der Ausstellung „Betroffene zeigen Gesicht!“ im Tagungszentrum Hohenheim zeigen Missbrauchsopfer Bilder aus der Zeit ihrer Kindheit – Bilder, die es unmöglich machen wegzusehen.

Von Miriam Hesse

Ein akkurater Pony, Kommunionslicht kerzengerade vor sich hertragend, Sommersprossen auf der Nase und ein breites Lachen, das schiefe Zähne zeigt: Erst der Text neben dem Kinderbild im roten Passepartout offenbart die wahre Gefühlslage des Mädchens. Sie sei auf der Suche nach Geborgenheit und Schutz gewesen, schreibt die Erwachsene über ihr früheres Ich, so hätten die Täter „leichtes Spiel“ gehabt. Geblieben ist eine posttraumatische Belastungsstörung, die es ihr schwer mache, sich in die Gesellschaft zu integrieren: „Scham und mangelndes Vertrauen hindern mich noch heute daran, offen auf meine Mitmenschen zuzugehen.“ Der Blick vom Text zurück auf das Bild ist ein Blick in den Abgrund.

13 Kinderfotos, 13 kurze Begleittexte, die die Menschen, die ihre Bilder für diese Ausstellung der Akademie im Tagungszentrum Hohenheim zur Verfügung stellen, verfasst haben: Sie zeigen die Gesichter hinter den ungeheuren Zahlen, die die Missbrauchsstudien im Aufarbeitungsprozess der katholischen Kirche zu Tage befördern. „Diese Ausstellung soll als Anwaltschaft der Betroffenen fungieren“, sagt Ilonka Czerny, Leiterin des Fachbereichs Kunst, bei der vom Percussionisten Bernd Settelmeyer musikalisch begleiteten Eröffnung.

Gesicht zeigen – das habe für ihn die Bedeutung, „den Tätern und den Vertuschern“ die Macht über sich zu nehmen, sagt ein Betroffener in einem Video, das am Eröffnungsabend eingespielt wurde. Es sei viel zu lange geschwiegen worden „aus Angst, dass man uns nicht glaubt“: „Ich bin ein verletzter, geschändeter Mensch, aber ein Mensch, ein Mensch mit einem Gesicht.“ 

Die Macht des Systems

„Überheblichkeit und gelebte Macht im System“ sind für Karl Haucke die Ursachen der hundertfachen Gewalterfahrung, der er im Alter zwischen 12 und 16 an einem katholischen Ordensinternat ausgeliefert war. Ein Pater vergewaltigte ihn wieder und wieder. Die anschließende Beichte habe der Kirchenmann benutzt, um sich schildern zu lassen, was er ihm zuvor angetan hatte: „Die entscheidende Folge war der schwere Vertrauensbruch.“

Haucke ist 71 Jahre alt und Mitglied im Betroffenenrat der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Er ist zur Ausstellungseröffnung aus Köln angereist, wo er Ende 2020 aus Protest gegen Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki und dessen Nichtveröffentlichung des Missbrauchsgutachtens als Sprecher des Betroffenenbeirats zurückgetreten ist. Das Vorgehen des Kardinals habe bei ihm „wie bei einer klassischen Retraumatisierung“ umgehend die Symptome aus der Kindheit ausbrechen lassen, erinnert sich Haucke:  „Wieder wurde der Schutz des Systems über den Kinderschutz gestellt.“

Kindheitsrisiko dieser Zeit

Die Reise nach Stuttgart, sein Engagement für den Verein „Eckiger Tisch“, die Bühnenauftritte für das Schauspiel Köln im Stück „Das Himmelreich wollen wir schon selbst finden“: Haucke investiert viel Zeit in seine Auftritte als Betroffener. Denn die Erfahrungen in seiner Kindheit, die Erkenntnisse aus den Missbrauchsstudien sind keineswegs Geschichten aus der Vergangenheit. Sexuelle Gewalt ist das Kindheitsrisiko dieser Zeit durch alle Lebensräume und Schichten dieser Gesellschaft hindurch. In Gemeinden, im Nachbarhaus, in der Familie. Erst kürzlich, so Haucke, sei ihm wieder ein Kirchengemeinderat untergekommen, der zum Schutzkonzept vor Kindesmissbrauch sagte: „Das brauchen wir nicht, sowas gibt es bei uns nicht.“ Haucke schüttelt den Kopf. Es ist noch viel zu tun. Er wird nicht schweigen.

Weitere Informationen

Die Ausstellung ist noch bis 31. Juli im Tagungszentrum Hohenheim zu sehen. Die Präsentation ist als Wanderausstellung gedacht. Interessierte Institutionen können sich gerne unter czerny@akademie-rs.de melden.

Die Ausstellung ist auch um zusätzliche Exponate erweiterbar. Gerne können sich weitere Betroffene unter Pseudonym oder mit Realnamen melden. In einem ausführlichen Konzept, welches Interessierten zugesendet werden kann, ist alles Wissenswerte zusammengefasst. Ein vertrauensvoller Umgang mit den Daten wird zugesichert und ist selbstverständlich.

 

Heute kämpft Karl Haucke für die Opfer von Missbrauch in der katholischen Kirche unter anderem als Mitglied der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“.
Breites Lachen für die Kamera: Erst der Text neben dem Kinderbild offenbart die wahre Gefühlslage des Mädchens.
Karl Haucke erlebt als Kind in einem Ordensinternat jahrelang massive Gewalt und wird von einem Pater sexuell missbraucht.