Zukunft einer bedrohten Gesellschaft

Demokratie braucht aufgeklärte Religion

Religion und Demokratie brauchen sich wechselseitig. Wie aber kann das Potential der Religionen für die Demokratie definiert und fruchtbar werden?

Von Dr. Markus Vogt, Professor für Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München*
Die monotheistischen Religionen sind in paradoxer Weise zugleich Impulsgeber und Gegenspieler der Demokratie. Sie haben das Potential, demokratische Werte entscheidend zu fördern, aber auch, demokratische Prozesse der rationalen Abwägung von Argumenten und der Mehrheitsbildung durch Kompromisse zu blockieren. Sie sind Fluch und Segen der Demokratie.1

Ich möchte im Folgenden die programmatische Analyse von Hartmut Rosa, dass Demokratie Religion brauche,2 auch in die Gegenrichtung lesen und differenzieren: Religion und Demokratie brauchen sich wechselseitig, jedoch nur dann, wenn sie zueinander in eine kritisch-konstruktive Resonanz treten. Sie können sich auch schwächen: Ohne eine Kultivierung, Zähmung und Rationalisierung der religiösen Energien ist Demokratie gefährdet. Ohne zivilgesellschaftliche Räume des Engagements für öffentliche Belange degeneriert Religion zur bloßen Privatsache, was der biblischen Tradition widerspricht. Demokratie bedarf der Einübung religiöser Toleranz, Aufklärung und Gemeinschaftsbildung. Menschenfreundliche Religion braucht ihrerseits demokratische Bildung, die zu einer aktiven Mitgestaltung des öffentlichen Raumes jenseits bloßer Konsumentenmentalität ermutigt und befähigt. Man kann die Wechselwirkung auch von einer Defizitanalyse her in den Blick nehmen: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Krise der Demokratie und der Krise der Religion.

Faktisch sind die Religionen heute oft Gegenspieler der Demokratie. So haben beispielsweise die antidemokratischen Denkmuster der AfD starken Rückhalt unter Christen.3 Für Patriarch Kyrill ist der Krieg Putins gegen die Ukraine „metaphysisch“ legitimiert als Verteidigung orthodoxer Werte gegen die vom säkularen, demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat geprägte Gesellschaftsform des Westens.4 Mich interessiert aber nicht primär die negative Korrelation von Religion und Demokratie, sondern ich möchte vorrangig nach den Bedingungen fragen, unter denen Religion zum Impulsgeber für eine demokratische Kultur werden kann. In dem weiten Feld begrenze ich mich im Folgenden auf die Rolle der monotheistischen Religionen und gliedere die Argumentation durch sieben Leitthesen.

1. Die Beziehung von Demokratie und Religion ist paradox und ambivalent.

Die monotheistischen Religionen sind zugleich Quelle, Ermöglicher und Segen für die Demokratie sowie einer ihrer mächtigsten Gegenspieler und Störfaktoren. Dazu nur einige Beispiele:
Historisch gesehen wurde Demokratie eher gegen die Kirchen (besonders die katholische Kirche) durchgesetzt als durch diese gefördert.5

In der päpstlichen Bannschrift Syllabus errorum von 1864 wurden liberale Demokratie und individuelle Menschenrechte als Irrtümer der modernen Gesellschaft verurteilt.6

Nach katholischer Lehre sind Macht und Ämter in der Kirche nicht demokratisch, sondern hierarchisch von Christus und der Tradition her legitimiert.

Zugleich waren und sind die christlichen Kirchen Quelle der Demokratie:

In den frühchristlichen Gemeinden und Ordensverfassungen gab es seit dem 5. Jahrhundert Elemente einer demokratischen Beratung und Mitbestimmung, die bis heute vorbildlich sind.

Harsche Machtkritik, die auch von den Königen fordert, sich an das Gesetz der Thora zu halten, was man als Vorläufer der Gewaltenteilung interpretieren kann, ist ein konstitutives Element der Prophetie im antiken Israel.

Das Bild des Menschen als Ebenbild Gottes ist die Demokratisierung einer ursprünglich nur auf den König gemünzten Vorstellung. Sie hat die europäische Geschichte und ihre demokratischen Gesellschaftsentwürfe geprägt.7

2. Das Verhältnis zwischen Christentum und Menschenrechten ist asymmetrisch.

Heute geht die Christliche Sozialethik davon aus, dass die menschenrechtlich verfasste Demokratie diejenige Gesellschaftsordnung darstellt, die dem biblischen Menschenbild und den damit verbundenen Vorstellungen von Gerechtigkeit am ehesten entspricht.8 Die Idee der unbedingten Würde des Menschen, die von Gott voraussetzungslos anerkannt ist und nicht erst durch Leistung verdient werden muss, ist eine tiefe Begründung für das Gesellschaftsmodell der freiheitlichen, menschenrechtlich verfassten Demokratie. Aus christlicher Sicht ist der Mensch zur Freiheit berufen.9 Jeder Einzelne besitzt vor Gott die gleiche Würde, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, politischer Überzeugung und Religion.

Bei all dem ist das Verhältnis zwischen Christentum und Demokratie jedoch asymmetrisch: Wer Christ*in ist, muss sich notwendig für die Werte der Demokratie einsetzen. Aber man muss nicht zwangsläufig Christ*in sein, wenn man für diese plädiert. Mit einem Bild ausgedrückt: Die christliche Tradition ist wie eine Leiter, mit der man auf das Dach der menschenrechtlich verfassten Demokratie steigen kann. Es gibt aber auch andere mögliche Zugänge. Die Demokratie ist begründungsoffen, d.h. für verschiedene religiöse oder kulturelle Begründungen zugänglich.10

Dieser kleine, aber feine Unterschied ist deshalb so wichtig, weil eine christliche Vereinnahmung der Menschenrechte ihnen die universale Sinnspitze rauben würde. In der heutigen Weltgesellschaft sind wir dringend auf eine universale Ethik als Basis der Verständigung über die Grundlagen des globalen Zusammenlebens angewiesen. Man kann und muss die Demokratie, den Humanismus und die Menschenrechte durchaus unterschiedlich begründen, entfalten und konkretisieren; aber in ihrem Kern sind sie universal und nicht abhängig von bestimmten Religionen oder Kulturen.11

3. Die Differenzierung zwischen Politik und Religion ist ein Schlüssel für Freiheit und Frieden.

Die säkulare Autonomie der Menschenrechte und damit auch der Demokratie ist bis heute keineswegs unumstritten. Gerade weil sich die menschenrechtlich verfasste Demokratie von der unmittelbaren Abhängigkeit von religiösen Prämissen emanzipiert hat und ihre Wertgrundlage säkular versteht, sitzt der Vorbehalt ihr gegenüber tief in den Köpfen vieler Religionsvertreter. Historisch hat sich dieser Vorbehalt auch deshalb verfestigt, weil Menschenrechte und Demokratie im Zuge der Französischen Revolution mit einem antiklerikalen Pathos vertreten wurden.

Die Ausdifferenzierung zwischen Religion und Politik, die sich in der europäischen Geschichte in vielen Etappen und unterschiedlichen Ausprägungen Bahn gebrochen hat, ist jedoch sozialethisch unumkehrbar. Sie mündet in das Modell eines säkularen Staates und einer pluralistischen Gesellschaft. Sie ermöglicht Freiheit. Nur wenn die Arena des Politischen von religiösen Wahrheitsansprüchen entlastet ist, besteht die nötige Kompromissbereitschaft als Handwerkszeug der Demokratie.12  Es hat eine enorm entlastende Funktion, wenn Politik nur für das Vorletzte zuständig ist und nicht für die letzten Wahrheiten. Diese Differenzierung ermöglicht gesellschaftlichen Frieden trotz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und Weltanschauungen. Heute ist dieser Frieden jedoch gefährdet. Das führt mich zur 4. These.

4. Proaktive Toleranz ist die Tugend der Demokratie.

Wir erleben derzeit eine Rückkehr der Religionen, insbesondere der monotheistischen Bekenntnisse, in den öffentlichen Raum und damit auch in das Feld der Politik unter negativem Vorzeichen.13 Damit verbunden ist eine markante Veränderung der Muster politischer Konflikte seit der Jahrtausendwende, seit 9/11, den Terroranschlägen auf das World Trade Center, mit denen das 21. Jahrhundert begonnen hat. Mit 7/10, dem Massaker der Hamas in Israel, das  ebenfalls religiös oder pseudoreligiös motiviert und mit Gewalt sowie kollektiven Feindbildern verknüpft war, hat sich das gleiche Muster bestätigt. Hier wurde Religion zum Fluch der Demokratie.

Der Politikwissenschaftler und Militärberater Samuel Huntington hat bereits in den 1990er-Jahren vorausgesagt, dass die Konflikte der kommenden Epoche durch den „clash of civilisations“ geprägt sein werden, also den „Zusammenprall“ von Kulturen und ihren religiösen Prägungen. Scheinbar geben ihm die Erfahrungen der zweieinhalb zurückliegenden Jahrzehnte Recht. Das ist aber kein notwendiges Schicksal: Unterschiedliche Religionen und Kulturen können durchaus auch friedlich koexistieren und so sogar besondere Blütezeiten hervorbringen. Dies braucht jedoch unter den heutigen Bedingungen der Migrationsgesellschaft und der Verstärkung von Polarisierungen durch digitale Kommunikation eine neue Kultur der Toleranz, die darauf beruht, dass Religionen und Kulturen dialogfähig werden.

Toleranz ist die Tugend der Demokratie.14 Sie braucht die Fähigkeit, Andersartigkeiten von anderen auszuhalten, ohne sich dadurch verunsichert zu fühlen. Sie betrachtet diese im Gegenteil als Chance, etwas zu lernen. Ich nenne dies proaktive Toleranz:15 Demnach genügt weder die passive Toleranz des Erduldens als Mittel der Konfliktvermeidung noch die aktive Toleranz rein formaler Regeln des Streites. Nötig ist vielmehr eine proaktive Toleranz, die neugierig ist auf die Andersartigkeit des Anderen und Vielfalt als Reichtum erfahrbar macht. Sie vermeidet die Eskalation von Konflikten, indem sie vorbeugend Räume des Dialogs und der Vertrauensbildung aufbaut. Proaktive Toleranz ermöglicht die Koexistenz starker Überzeugungen und ist umso mehr nötig, je weniger die Religionen in den bloß privaten Bereich abgedrängt werden. Wie aber kann das positive Potential der Religionen für die Demokratie genauer definiert und fruchtbar gemacht werden? Eine Antwort auf diese Frage skizziert die fünfte These.

5. Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie nicht garantieren kann.

Die Trennung oder die Unterscheidung von Religion und Politik bedeutet nicht, dass die Religion in der Demokratie bedeutungslos ist. Prägnant hat dies der frühere Verfassungsrichter und Religionsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde auf den Begriff gebracht: „Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie mit Ihren Mitteln, nämlich den Mitteln des Rechts, nicht garantieren kann. Das ist das Wagnis, das sie um der Freiheit willen eingegangen ist.“16 Damit ist gemeint: Die Demokratie kann gleiche Freiheit für alle garantieren, aber sie funktioniert nur, wenn die Menschen die Freiheit dann auch nutzen, um sich für die Gesellschaft zu engagieren, wenn sie sich für Gerechtigkeit, Gesundheit und Wohlstand einsetzen, wenn sie es wagen, eine Familie zu gründen, Kinder in die Welt zu setzen, wenn sie in Bildung und Forschung um Lösungen für all die Herausforderungen des Zusammenlebens ringen. Das kann man nicht rechtlich erzwingen, denn es hängt davon ab, dass die Menschen auf einer tieferen persönlichen Ebene motiviert sind. Diese Ebene hat mit Sinnvorstellungen zu tun, die ihrerseits ein klassisches Terrain von Religionen und Weltanschauungen darstellen.

Die (monotheistischen) Religionen sind wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Man kann ihren Mehrwert gegenüber einer rein säkularen Ethik prägnant mit den drei Verben „motivieren“, „kritisieren“ und „integrieren“ zusammenfassen:17

Religiöser Glaube kann ermutigen in Grenzsituationen des Lebens, in Erfahrungen von extremem Leid, Krankheit, Gewalt und Schuld, angesichts derer alles sinnlos zu sein scheint; er kann motivieren, an einem Grundvertrauen in den Sinn des Lebens festzuhalten und dies vermitteln durch diakonisches Handeln sowie durch Riten und Erzählungen, die positive Emotionen fördern.

Da die Bindung an das Unendliche Freiheit gegenüber dem Endlichen ermöglicht, kann religiöses Transzendenzbewusstsein helfen, eine kritische Distanz aufrecht zu erhalten, wenn innerweltliche Dinge und Teilwahrheiten absolut gesetzt werden. Religion hat hier eine wichtige Funktion der Ideologiekritik.

Schließlich kann Religion auch integrieren, insofern die Anhänger der Weltreligionen aus allen gesellschaftlichen Schichten und allen Ländern kommen. Die Kirche und alle Weltreligionen sind weltweite Solidargemeinschaften. Als solche sind sie in der heutigen globalen Welt, die zugleich einheitlicher und zerrissener geworden ist, dringend gefordert. Denn ohne die Befähigung zu weltweiter, alle Länder und soziale Schichten übergreifender Solidarität wird die Menschheit im 21. Jahrhundert nicht bestehen können.

Motivieren, kritisieren und integrieren sind die drei Grundfunktionen des religiösen Sinnhorizontes gegenüber einer rein säkularen Ethik. Sie sind Potentiale aller Religionen und fassen bündig die Voraussetzungen zusammen, von denen die Demokratie lebt, ohne sie selbst garantieren zu können. Hinsichtlich dieser drei Funktionen kann Religion ein Segen sein für die Demokratie. Gerade dieses religiöse Potenzial für eine demokratische Kultur muss jedoch heute auf neue Weise auch gesellschaftlich entfaltet werden. Das führt mich zu meiner sechsten These.

6. Wir müssen neu lernen, Demokratie nach außen und innen zu verteidigen.

Das Ordnungsmodell der Demokratie steht derzeit weltweit unter Druck.18 Die monotheistischen Religionen spielen bei der Krise der Demokratie eine nicht unerhebliche Rolle, die jedoch vielschichtig und nicht leicht zu fassen ist. So ist es beispielsweise schwer einzuschätzen, welches Gewicht dem Faktor Religion in Putins Kampf gegen die menschenrechtlich verfasste, säkulare, demokratische und pluralistische Gesellschaftsordnung des „Westens“ zukommt. Aus meiner Sicht ist Religion konstitutiv.19 Das klassische Modell der „Symphonie“ von Kirche und Staat in der Orthodoxie öffnet der Instrumentalisierung Tür und Tor. Man kann von einem Bündnis zwischen Thron und Altar sprechen, das es Putin ermöglicht, seinen Krieg gegen die demokratische Gesellschaftsordnung der Ukraine und des Westens religiös zu legitimieren. Zumindest hat er ein semireligiöses Sendungsbewusstsein für die Rettung der „Russischen Welt“ (Russki Mir).

Auch im Inneren schwächeln die westlichen Demokratien. So stellt derzeit vor allem der Rechtspopulismus die Werte der Demokratie offen oder schleichend infrage. Dabei hat er erheblichen Rückhalt in den Religionen. Es gibt Spielarten des Katholizismus, die dazu beitragen wollen, Rechtspopulisten in Rom, AfD-Vertreter in Deutschland, Le Pen-Gruppierungen in Frankreich, um nur einige zu nennen, europaweit zu einigen.20 Die identitären Bewegungen stellen wesentliche Standards christlicher Sozialethik infrage.21 Papst Franziskus sieht in seiner Enzyklika Fratelli tutti (2020) die „Politik der Abschottung“ als eine der größten Bedrohungen der Gegenwart. Für ihn ist es von dieser oft nur noch ein kleiner Schritt zur Aggression zwischen den Nationen und zum Krieg.22 In der kontroversen Debatte um die Migrationspolitik sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es ein berechtigtes Interesse demokratischer Staaten gibt, die souveräne Kontrolle über ihre Grenzen zu behalten.23

Die weltweite Schwäche der Demokratie im Schatten autokratischer und aggressiver Systeme ist eine grundlegende Herausforderung auch für die Religionen. Ihre Instrumentalisierung zur  Verstärkung menschenfeindlicher Abschottung ist mit dem christlichen Anspruch globaler Solidarität mit den Ärmsten nicht vereinbar. Es ist jedoch auch Aufgabe christlicher Sozialethik, nüchtern die Ursachen für das weltweite Phänomen der neuen Attraktivität autokratischer und antidemokratischer Herrschaftssysteme zu analysieren. Hier zeigt sich immer wieder das Gefühl der Überforderung und des Unbehagens an einer zunehmend heterogenen, konturlos entgrenzten und von Konkurrenzprozessen geprägten Gesellschaft. Auch aufgrund der Schwäche religiöser und kultureller Integration vermag die globalisierte Konkurrenzgesellschaft oft nicht hinreichend das Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. Sozialen Zusammenhalt und Zugehörigkeit in einer offenen Gesellschaft zu stärken ist nicht zuletzt auch eine Frage der religiösen Bildung.24 Das führt mich zur siebten und letzten These.

7. In der „Gesellschaft der Angst“ kann ein therapeutisches Christentum grundlegend zu einer demokratischen Kultur beitragen.

Nach Einschätzung des Soziologen Heinz Bude leben wir in einer „Gesellschaft der Angst“25 – Angst vor dem Klimawandel, Angst vor dem sozialen Abstieg, vor Corona, vor Einsamkeit oder vor dem Krieg. Dies erzeugt soziale und politische Spaltungen. Viele flüchten in Verschwörungstheorien. Im Bann der Ängste schwindet die nötige Bereitschaft, sich auf das Wagnis der offenen, demokratischen Gesellschaft einzulassen.

Wir brauchen eine Transformation der Angst in aktive, solidarische und demokratische Zukunftssorge. Eugen Biser sieht genau darin eine entscheidende Aufgabe des Christentums, das er deshalb „therapeutische Religion“ nennt.26 Im Mittelpunkt sollte die Vermittlung des Bewusstseins von der unbedingten Anerkennung jedes einzelnen Menschen stehen, die unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Religion und Leistung gilt. Wenn Religionen durch Vertrauensstiftung, Taten der Nächstenliebe, menschenfreundliche Zuwendung und gelebte Hoffnung dieses Bewusstsein der unbedingten Würde vermitteln, werden sie zum Segen für die Demokratie.

Diese segensreiche Funktion können sie (zum erheblichen Teil selbstverschuldet) jedoch immer weniger wahrnehmen. In Deutschland sind die beiden großen christlichen Konfessionen dabei, ihre Mehrheitsposition zu verlieren. Seit April 2022 machen ihre Mitglieder zusammen weniger als 50 % der Bevölkerung aus. Im Schatten der Missbrauchsdebatte und der zögerlichen Antworten darauf findet ein erdrutschartiger Vertrauensverlust statt.

Das hat weitreichende Konsequenzen: Religiöse Resonanzfähigkeit und das jahrhundertealte Wissen um sinnstiftende Symbole, Riten und Weltdeutungen geht verloren. Ebenso gehen „Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann“27 sowie religiöse Bildung, die dazu befähigt, rational über unterschiedliche Glaubensüberzeugungen zu debattieren, verloren. Dies wäre jedoch ein wichtiges Fundament der Demokratiefähigkeit – so Hartmut Rosa:28 Religion lebt ebenso wie Demokratie von der Bereitschaft, zuzuhören, sich von anderen anrufen und verwandeln zu lassen. Sich anrufen und verwandeln zu lassen, ist nach Rosa die Kernkompetenz der Religion. Die Bereitschaft und Fähigkeit hierzu schwinde im „rasenden Stillstand“ der egozentrischen Angst- und Beschleunigungsgesellschaft. Religion hat die Aufgabe, daran zu erinnern, dass das Zusammenleben mehr ist als eine Arena, in der es gilt, seine Interessen und Meinungen durchzusetzen. Ohne eine solche Horizonterweiterung stirbt auch die Demokratie. Deshalb lassen sich die Krise der Demokratie und die Krise der Religion nur gemeinsam oder gar nicht überwinden.

Demokratie braucht starke Religionen als Quelle der Hoffnung und Sinnstiftung in einer taumelnden Welt.29 Aber nur unter der Bedingung eines lebendigen Bewusstseins der individuellen Würde – der eigenen und der des Nächsten – sowie von proaktiver Toleranz und Dialogbereitschaft können sie demokratisch konstruktiv wirken. Demokratie braucht aufgeklärte, dialogoffene und resonanzfähige Religion. Zugleich brauchen die christlichen Kirchen den demokratischen Rechtsstaat und unabhängige Medien, um die Kraft für eine angemessene Aufarbeitung des vielfältigen Missbrauchs von Macht (sexuell, spirituell und institutionell) zu finden. Sie brauchen Möglichkeitsräume zivilgesellschaftlicher Mitverantwortung, um die politische Dimension des christlichen Glaubens neu zu entdecken und praktisch zu entfalten.

Die monotheistischen Religionen brauchen das kritische Gegenüber einer unabhängigen Vernunft, an dem sie sich reiben, wachsen und reifen können, so wie die wissenschaftliche und demokratisch-rechtsstaatlich verfasste Vernunft der Moderne das kritische Gegenüber religiöser Transzendenz braucht, um sich nicht selbst absolut zu setzen und den eigenen Ambivalenzen zu verfallen.30 Im Anspruch christlicher Sozialethik brauchen sich Religion und Demokratie wechselseitig.

Anmerkungen

1       Der Beitrag beruht auf dem Roman-Herzog-Talk „Warum die Religionen Fluch und Segen der Demokratie sind“, der am 15.11.2023 in München gehalten wurde. Vgl. <https://www.youtube.com/watch?v=nuOeDPBrkCE>..

2       Harmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis. München 92023. Das Buch geht auf einen Vortrag beim Diözesanempfang in Würzburg 2022 zurück.

3       Vgl. Siegfried Grillmeyer, Kai Kallbach, Claudia Pfrang und Martin Stammler (Hgg.): Die katholische Kirche und die radikale Rechte. Analysen und Handlungsperspektiven. Würzburg 2023.

4       Markus Vogt: The Dangerous Construction of National, Religious and Moral Identities in the Ukrainian War. In: Proceedings of the European Academy of Sciences & Arts 1 (2022), 15-20; <https://doi.org/10.5281/zenodo.7185003>.

5       Einen guten Überblick über das vielschichtige Spannungsverhältnis von Demokratie, Politik und Religion geben Heinz-Dieter Meyer, Michael Minkenberg und Ilona Ostner (Hgg.): Religion und Politik. Zwischen Universalismus und Partikularismus. Opladen 2000.

6       Zu Hintergründen, Entwicklungen und Widersprüchlichkeiten vgl. ausführlich Rudolf Uertz: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789-1965). Paderborn 2005.

7       Dazu wegweisend Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011.

8       Michelle Becka: Christliche Sozialethik als Menschrechtsethik. In: StdZ 144 (2019), 813-822.

9       Vgl. Hermann Häring: „So steht also fest!“ Freiheit als Maß allen Christseins. In: MThZ 3/2014, 178-196.In der Katholischen Soziallehre hat der Freiheitsbegriff bis heute jedoch nicht die zentrale Stellung erhalten, die ihm von den biblischen Grundlagen her zukäme, was Kardinal Marx in seiner jüngsten Monografie auszugleichen sucht: Reinhard Marx: Freiheit. München 2020.

10     Konrad Hilpert: Begründungsoffen und doch mit universellem Anspruch? Zur Genealogie und Interkulturalität der Menschenrechte. In: Amos international 2013/2, 19-25; vgl. auch Konrad Hilpert: Ethik der Menschenrechte. Zwischen Rhetorik und Verwirklichung. Paderborn 2019.

11     Volker Gerhardt: Humanität. Über den Geist der Menschheit. München 2019.

12     Vgl. Anette Schavan: Ethischer Anspruch und politischer Kompromiss. In: Markus Vogt (Hg.): Christliche Sozialethik – Architektur einer jungen Disziplin. München 2012, 32-42.

13     Für eine frühe Prognose und Analyse hierzu vgl. José Casanova: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994; vgl. auch mit optimistischem Vorzeichen Wolfram Weimer: Sehnsucht nach Gott. Warum die Rückkehr der Religion gut für unsere Gesellschaft ist, Paderborn 2021. Aus meiner Sicht dominieren zumindest bisher die Schattenseiten dieser Rückkehr. Sozialethisch ist sie hochgradig ambivalent.

14     Dabei ist jedoch zu beachten, dass Toleranz ein Konfliktbegriff ist, der Auseinandersetzung einschließt und seine Grenze darin findet, dass intolerantes Verhalten nicht zu tolerieren ist; vgl. Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt am Main 52017, 38, 12-23.

15     Markus Vogt und Arnd Küppers (Hgg.): Proactive Tolerance. The Key to Peace (Studien zur Friedensethik 69). Baden-Baden 2021.

16     Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert (Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themenband 86). München 2007, 71.

17     Alfons Auer: Autonome Moral und christlicher Glaube. Düsseldorf 21989, 189-197. Auer spricht von „stimulieren“ statt von „motivieren“.

18     Eine prägnante Zusammenfassung und Analyse der aktuellen Herausforderungen der Demokratie finden sich bei Herfried Münkler: Die Zukunft der Demokratie. Wien 2022.

19     Vgl. Vogt 2022 (Anm. 4), 15-20.

20     Vgl. dazu Sebastian Pittl: Die politische Theologie neurechter Bewegungen. In: Grillmeyer et al. (Anm. 3), 17-55.

21     Michelle Becka: Sozialethik ohne Herdenzugehörigkeit. Elemente einer anti-identitären Sozialethik. In: Ethik und Gesellschaft 1/2020, <http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/article/view/1-2020-art-10>.

22     Franziskus: Fratelli tutti. Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 227), Bonn 2020; zu friedensethischen Aspekten vgl. Markus Vogt: Die Botschaft von Fratelli tutti im Kontext der Katholischen Soziallehre. In: MThZ 72/2021, 108-123.

23     Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Hamburg 2017.

24     Markus Vogt: Horizonte politischer Bildung in religiös-konfessioneller Trägerschaft. Selbstverständnis, Aufgaben und Bündnisse in Zeiten des Umbruchs. In: Stefan Zinsmeister et al. (Hgg.): Politische Bildung in religiös konfessioneller Trägerschaft (im Druck).

25     Heinz Bude: Gesellschaft der Angst. Hamburg 2014.

26     Markus Krienke: Therapeutisches Christentum: Zum 100. Geburtstag Eugen Bisers. In: StdZ 143 (2018) 875-884.

27     Rosa (Anm. 2), 55 f.

28     Vgl. zum Folgenden Rosa (Anm. 2), 56-61.

29     Markus Vogt: Quelle der Hoffnung und Sinnstiftung in einer taumelnden Welt. Zur Bedeutung von Religion in spätmoderner Gesellschaft. In: Guggenberger et al. (Hgg.): Politik des Evangeliums / Politics of the Gospel. Innsbruck 2023, 33-47.

30     Vgl. dazu den berühmten Dialog Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg 2005. Zu den unhintergehbaren Ambivalenzen der Moderne und der Relevanz christlicher Perspektiven vgl. Markus Vogt und Maximilian Gigl (Hgg.): Christentum und moderne Lebenswelten. Ein Spannungsfeld voller Ambivalenzen (Gesellschaft – Ethik – Religion 19). Paderborn 2022.

*) Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der „Stimmen der Zeit“, in deren Ausgabe 03/2024 der Aufsatz gedruckt worden ist.

**) Zur Geschichte des Bildes und seiner politischen Verwendung Anfang des 13. Jahrhunderts in England führt dieser Link hier.

Der Prophet Natan tadelt König David; dieser sinkt vor der religiösen Autorität auf die Knie.**)
Der Prophet Natan tadelt König David; dieser sinkt vor der religiösen Autorität auf die Knie.**)