| Thomas König | Teilhabe und Soziales
Abendvortrag

Die Kirchen und der § 175

In der alten BRD, vor allem in der moralisch rigiden Adenauer-Zeit, beteiligten sich auch die Kirchen an Polemik und Hetze gegen Homosexuelle. Und dann kam es zu zwei ungewöhnlichen Akademietagungen.

Von Paul Kreiner

 

Die alte BRD, vor allem in ihrer ersten, der Adenauer-Phase, war ein Hort restriktiver Sexualmoral. „Gegen Schund und Schmutz“, so ein Grundmotiv der gesellschaftlichen Diskussion, gründete man 1954 die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.“ Im Interesse von „Sitte, Zucht und Anstand“ verlangte Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling eine „Volkszensur.“ Vielfach schwangen – von den wortführenden Personen waren ja etliche schon in der NS-Zeit aktiv gewesen – auch noch Moralvorstellungen oder Gedanken der „Volksgesundheit“ aus dem „Dritten Reich“ mit, vor allem aber die Vorstellung, man müsse Andersdenkende mit den Mitteln des Strafrechts verfolgen.

Andersliebende nicht zuletzt. So wurde auch der § 175 des Strafgesetzbuchs, eingeführt 1872 durch das Deutsche Reich, in der von den Nationalsozialisten verschärften Form beibehalten. Auf Homosexualität (nur) unter Männern stand Zuchthaus bis zu zehn Jahren. An der Hetze gegen Homosexuelle beteiligten sich auch die beiden großen christlichen Kirchen. Auf katholischer Seite war das vor allem der „Volkswartbund“, dessen Vorsitzender direkt vom Erzbischof in Köln zu benennen war, und wo sich als Pamphletist sowie als parlamentarisch recht einflussreicher Anti-Schwulen-Lobbyist besonders ein Bonner Amtsgerichtsrat namens Richard Gatzweiler hervortat: Homosexuelle Männer, das waren in seinen Augen die „Jugendverführer“ schlechthin.

Auf kirchlichen Druck – immer unter der Überschrift „Jugendschutz“ – verschärfte auch die Stadt Stuttgart die systematische sittenpolizeiliche Überwachung von Bädern, von öffentlichen Toiletten, von Parks, von allen irgendwie denkbaren Treffpunkten insbesondere homo- und bisexueller Männer. Andererseits waren es gerade auch kirchliche Einrichtungen, die über Liberalisierungen wenn nicht der Moral, so doch der Strafgesetze nachdachten. Wirkung erzielten sie damals nicht unmittelbar, der § 175 wurde erst 1994 gestrichen. Aber sie legten Spuren.

Das haben nun Dr. Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle bei einem gemeinsamen Vortrag herausgearbeitet. Beide forschen an der Universität Stuttgart im  Projekt „LSBTTIQ in Baden und Württemberg: Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland“, sowie an anderen Themen queerer Geschichte.

Doppelt war der Online-Vortrag nicht nur, weil er von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und von der Evangelischen Akademie Bad Boll gemeinsam veranstaltet wurde, sondern auch, weil Munier und Steinle direkt in den Archiven der beiden Akademien recherchiert hatten – und nun ihre Erkenntnisse aus einer wiederum bemerkenswerten Doppelung von damals vortrugen: Im Dezember 1960, im Abstand von nur wenigen Tagen, veranstaltete sowohl Bad Boll als auch die Diözesanakademie eine Tagung zum Thema Sexualität. Den Hintergrund bildete die gesellschaftliche Diskussion um die Entwürfe der Bundesregierung zur – damals – Großen Strafrechtsreform. Die Evangelischen trauten sich sogar, eines der stärksten Reizwörter in den Titel zu nehmen: „Probleme der Homosexualität.“ Auf katholischer Seite, wo es nicht nur, aber schon auch stark um Gleichgeschlechtliches ging, nannte sich das Treffen „Sexuelles Verhalten und Gesetzgebung des Staates.“

Ihr zweitägiges Arbeitstreffen in Stuttgart veranstaltete die Diözesanakademie gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. So waren auch deren Vorsitzender und sein Vorgänger anwesend: Werner Villinger und Hans Bürger-Prinz, beide hoch belastet wegen ihrer Verstrickungen in Nazi-Unrecht (Zwangssterilisierungen, Eugenik unter anderem). Anwesend waren auch bundesweit angesehene, hochkarätige Juristen wie etwa der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer – welcher dann gemeinsam mit Villinger (für diesen eine radikale Kehrtwende) nach Strafrechtsreformen und einer Streichung des § 175 rief. Dazu kamen weitere Juristen, zum Teil ebenfalls hochumstritten wegen ihrer NS-Vergangenheit. Im Publikum saß auch der Rassentheoretiker Max Eyrich, der als Landesjugendarzt in Württemberg an Euthanasiemorden beteiligt war. Es diskutieren jedoch auch Anwälte (beispielsweise Albrecht Dieckhoff) mit, die offen für den Schutz Homosexueller eintraten – eine laut Munier insgesamt „brisante Mischung“ an Teilnehmenden und Vortragenden. Immerhin gab die katholische Akademie unter der Leitung von Bruno Dreher, so Munier, derartigen liberalen Positionen zum § 175 StGB Gehör und der  Diskussion darüber Raum. Dreher beabsichtigte zwar auch, die Diskurse auf der Tagung durch die Einladung von Moraltheologen katholisch-korrekt einzuhegen. Dokumentiert ist deren Replik aber leider nicht, da Protokolle der Tagung nicht vorhanden und Tonbandaufnahmen bisher verschollen sind.

Überhaupt, auch das arbeitete Munier heraus, wurde diese bemerkenswert offene Diskussion hinterher ganz gegensätzlich bewertet. Die Tageszeitung „Die Welt“ hob in ihrem Bericht hervor, die Mehrheit der in Stuttgart anwesenden Fachleute sei „gegen den § 175“ gewesen, während Akademie-Direktor Dreher in einem kircheninternen Schreiben resümierte, eine Mehrheit habe sich „für den § 175“ ausgesprochen. Dass es so einfach nicht gewesen sein kann, zeigt der kirchenpolitische Rüffel, den der Rottenburger Generalvikar damals aus Bonn bekam, vom Leiter des Katholischen Büros, Prälat Wilhelm Wissing. Dieser schrieb, „[…] dass die Auswirkung dieser Tagung sich u. U. nachteilig auf die Durchsetzung gerade der spezifisch katholischen Belange bei der Strafrechtsreform auswirken könnte.“

Während an der katholischen Akademie also eher juristisch diskutiert wurde, war die Studientagung in Bad Boll nach den historischen Studien von Karl-Heinz Steinle eher seelsorglich geprägt. Einen „Freiraum für Diskussionen“ hatte Bad Boll schon 1957 mit der deutschlandweit ersten Kirchen-Tagung zum Thema Homosexualität geboten. Nun, 1960, kamen unter der Leitung von Pfarrer Hans Stroh 25 Teilnehmer aus Politik, Polizei, Kirche, Justiz und Verwaltung zusammen. Darunter war der renommierte liberale, evangelische Schweizer Eheberater Theodor Bovet, sowie andere Personen, die im ganz praktischen Leben unmittelbar mit homo- und bisexuellen Männern sowie männlichen Prostituierten zu tun hatten, beispielsweise Leute aus Beratungsstellen und Gefängnisseelsorger.

Gerade letztere, die sich tagtäglich zwischen der harten Ablehnung der Kirche und der konkreten Situation der Menschen in einem Dilemma befanden, berichteten – programmatisch bereits zum Tagungsauftakt – man stehe „vor unvorstellbaren Situationen, unlösbaren Problemen und unbeantwortbaren Fragen.“ Diesen müsse man „menschlich begegnen.“ So formulierten diese Praktiker damals, und Karl-Heinz Steinle spricht heute von einem „grauen Bereich der Möglichkeiten von Seelsorge.“ In diesem Rahmen scheine es für homosexuelle Männer schon auch Zuspruch gegeben zu haben.

Es habe auch in Bad Boll, so Steinle weiter, eine „erstaunlich offene Diskussion“ stattgefunden, deren Tenor er so wiedergab: Man solle Homosexuelle nicht länger kriminalisieren, ihre sexuelle Orientierung sei ja für sie selber schon Belastung genug; man solle – ohne die Kriminalisierung von Homosexualität als solche in Frage zu stellen – „nicht alles der Justiz überlassen“, man solle „die Sünde bestrafen, nicht den Sünder“, und sich lieber „um diese Menschen kümmern.“ In Bad Boll, so ergänzte Munier, habe sich damit zumindest anfanghaft ein  „Paradigmenwechsel“ vollzogen, weg von der Kriminalisierung homosexueller Männer in Richtung „helfende Zuwendung.“ Da kam auch die Vorstellung der Homosexuellen als „Kranker“ ins Spiel, wodurch solche Männer stärker in das Handlungsfeld seelsorglicher Betätigung rückten. Beides aber, Kriminalisierung wie Pathologisierung, sei auch Ausgangspunkt unzähligen menschlichen Leides gewesen. So verband und verbinde sich mit dem Aspekt der „Hilfe“ auch die Vorstellung einer Therapierung beziehungsweise einer Konversion von Homosexualität. 

Offen blieb leider, welche Auswirkungen – falls überhaupt – die Tagung in Bad Boll auf die Evangelischen Landeskirchen in Deutschland hatte. Es gebe, so lautete das große Fazit dieser wahrscheinlich zu kurzen Abendveranstaltung, noch eine Menge Forschungsbedarf.