| Dr. Vladimir Latinovic | Internationales, Migration, Menschenrechte
Literatur als Friedenspolitik

Gegen die Feindbilder im Kopf

Ein Online-Abend bringt uns die schwierige Situation im Konflikt um Bergkarabach näher. Und er belegt, wie mutig der Schriftsteller Akram Aylisli für Frieden im Kaukasus eintritt.



"Wenn man für jeden getöteten Armenier eine Kerze anzünden würde, dann wäre das Licht dieser Kerzen heller als das Licht des Mondes. Die Armenier erduldeten alles, nur von ihrem Glauben sagten sie sich nie los. Dieses Volk litt und schmachtete unter der Gewalt, doch es hörte nie auf, seine Kirchen zu bauen, seine Bücher zu schreiben und mit zum Himmel erhobenen Armen seinen Gott anzurufen."
Akram Aylisli, Steinträume: Ein Requiem (Osburg Verlag, 2015), S. 197

 
Dieses literarische Denkmal hat der Schriftsteller Akram Aylisli in seinem Buch „Steinträume“ (Seite 197, Osburg Verlag 2015) den Menschen in Armenien gesetzt. Das Besondere daran: Aylisli stammt aus Aserbaidschan, und er beschreibt ein Leid, das auch und besonders seine eigenen Landsleute den Menschen in Armenien angetan haben. Erst vor wenigen Monaten fand der bisher letzte Krieg in dieser unruhigen Kaukasusregion statt. Schon in den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, wurde um Bergkarabach blutig gestritten.

Der Journalist Ernst von Waldenfels, der viele Jahre als Korrespondent in Russland arbeitete, schilderte die wechselvolle Geschichte der Kaukasusregion, die klare Grenzen lange nicht kannte, sondern mit zahlreichen Ethnien, Sprachen und Dialekten ursprünglich eine multikulturelle Region war. Doch seit dem frühen 20. Jahrhundert, seit dem Zerfall des russischen Zarenreichs, gab es immer wieder wechselseitige Massaker um das zwischen Aserbaidschan und Armenien gelegene Gebiet Bergkarabach. Wer angefangen hat, sei schwer zu sagen, schilderte Waldenfels, eine gemeinsame Republik Armenien, Aserbaidschan und Georgien habe nicht funktioniert, Nach dem Zerfall der Sowjetunion seien die Konflikte wieder aufgebrochen, von 1992 bis 1994 wurde Krieg um Bergkarabach geführt, den Armenien gewann, eine halbe Million Aserbaidschaner wurden vertrieben, doch der Waffenstillstand wurde von der Staatengemeinschaft nicht anerkannt und vielfach gebrochen. 2020 flammte der Konflikt mit türkischer Hilfe und Drohnen wieder auf, die Armenien an den Rand der Niederlage brachten, woraufhin die Russen eingegriffen haben und mit Hilfe von syrischen Söldnern die Niederlage abgewendet haben. Sie sichern einen Korridor nach Bergkarabach, doch die Lage ist weiter sehr instabil, auch weil drei Mächte dort eigene strategische Interessen verfolgen: die Türkei, Russland und der Iran.

Die aserbaidschanische Zeitgeschichtlerin Dr. Einura Jivazada schilderte die dramatischen Folgen des blutigen Konflikts, den sie als koloniales, imperiales Erbe bezeichnete: jeder zehnte Bürger sei Binnenflüchtling, das verstärke Feindbilder, Zigtausende seien verletzt und getötet worden, aus dem Krieg in den 1990er Jahren seien immer noch viele Menschen vermisst, es gelte noch vieles aufzuklären.

Dr. Harutyun Harutyunyan, der die armenische Perspektive darstellte, erinnerte an den Genozid der Türken an den Armeniern und beschrieb den erneuten Krieg als "Retraumatisierung" der Menschen. Der Krieg im vergangenen Herbst sei brutal gewesen, Videos zeigten enthauptete armenische Soldaten, freigelassene Kriegsgefangene schilderten tägliche Folterungen, noch immer seien Menschen in aserbaidschanischer Gefangenschaft, das Rote Kreuz habe bisher noch nicht einmal Zugang zu allen.

Der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, beschrieb die Situation folgendermaßen: auf beiden Seiten sei man in Schützengräben, aber man kämpfe dort in verschiedenen Zeiten. "Für Armenien ist der Genozid omnipräsent und wird identifiziert mit den Türken. Man kämpft den Krieg der Großeltern, kämpft eine historische Schlacht." In Aserbaidschan erfahre man davon nichts, die Menschen dort fühlten sich nicht verantwortlich dafür, aktuell gehe es um den Konflikt um Bergkarabach. "Die Wucht des Krieges auf armenischer Seite war ganz anders als für die Menschen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, dort war er weit weg."
In dieser aufgeheizten Stimmung ist die Position des aserbaidschanischen Schriftstellers Akram Aylisli außergewöhnlich mutig. Darin stimmten Kermani, Waldenfels und Harutyunyan überein. Denn in seinem Roman "Steinträume" nimmt der aserbaidschanische Autor einen ungewöhnlichen Perspektivwechsel vor. Er versetzt sich in das Denken und Fühlen des "Erzfeindes". Er spricht sehr positiv über Armenier; es ist eine humanistische Position, die er einnimmt. Während Einura Jivazada schildert, dass Aylislis Roman in Aserbaidschan nicht besonders gut aufgenommen worden sei, ja eher Feindbilder verstärkt habe, weil er Beifall von der falschen Seite bekommen habe, berichtete Navid Kermani von einer sehr bewegenden Begegnung mit dem Schriftsteller in Baku. Kermani lobte den Roman als "literarisch tolles Buch, echte Weltliteratur, eine mutige und ungewöhnliche Stimme, die für sehr viele, vor allem junge Menschen spricht."

Kermani glaubt, dass viele Aserbaidschaner sich nicht klarmachen, was Aylisli für sie getan hat, er spricht von den armenischen Opfern, aber er hält auch den Armeniern, die in Hassbildern lebten, den Spiegel vor. Kerman zeigte sich überzeugt davon, dass man sich in 100 Jahren an den aserbaidschanischen Staatschef nicht mehr erinnere, wohl aber daran, dass das Land solch einen Autor hervorgebracht habe. Denn er wird auch die Armenier daran erinnern, dass sie sich die Opfergeschichte der anderen Seite anhören müssen, wenn es eine Versöhnung geben soll.

Für Dr. Vladimir Latinovic, der die gut 100 Zuhörenden souverän durch den Abend und in die zumeist unbekannte Welt des Kaukasus führte, zielt der Roman Akram Aylislis ins Zentrum christlicher Friedensethik. Große Zustimmung beim Publikum.  

(Barbara Thurner-Fromm)