| Dr. Verena Wodtke-Werner | Kirche und Gesellschaft
Kirche und Missbrauch

Gerechtigkeit – wie sähe sie aus?

20 Jahre nach Errichtung der Kommission Sexueller Missbrauch in Rottenburg-Stuttgart gab es bei einer Fachtagung kein wechselseitiges Schulterklopfen. Eher eine Auflistung dessen, was noch fehlt.

Von: Paul Kreiner

Von verspielter Glaubwürdigkeit war die Rede, davon, dass „erst ein Zipfel der Wahrheit“ sichtbar geworden sei, von viel zu langsamen Reaktionen seitens kirchlicher Stellen. Als „falsch“ wurde die Vorstellung bezeichnet, man könnte mit „Aufarbeitung“ das Thema sexueller Missbrauch beenden oder sich gar durch eine „allzu schnelle Flucht in die Prävention“ vor der Aufarbeitung drücken. Und was – vorerst auch noch mit Fragezeichen – das Ziel dieses schmerzhaften Prozesses sein könnte, ist auch erst dem Wort nach umrissen, noch lange nicht nach dem Inhalt: Gerechtigkeit. „Wir arbeiten und tasten uns vor auf Neuland.“

Gesagt wurde das alles bei einer Tagung zum Thema sexueller Missbrauch in Bad Schussenried. Eingeladen hatten das diözesane Präventions-Netzwerk zusammen mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart – zum fünften Mal und an einem gewissermaßen historischen Punkt: Zwanzig Jahre ist es her, dass Bischof Gebhard Fürst die Kommission für sexuellen Missbrauch gegründet hat – damals die erste in einem katholischen Bistum Deutschlands; vor zehn Jahren folgte ebenfalls für die Diözese Rottenburg-Stuttgart die „Stabsstelle Prävention, Kinder- und Jugendschutz“; vor zehn Monaten hat sich auf Diözesanebene, wie mit dem Staat vereinbart, eine unabhängige Aufarbeitungskommission konstituiert, und vor wenigen Tagen hat der Betroffenenbeirat seine Arbeit aufgenommen.

Damit sind die derzeit gültigen institutionellen Richtlinien erfüllt, worauf Bischof Gebhard Fürst hinwies. Zeit für alle Beteiligten, Bilanz zu ziehen, Modellhaftes zu präsentieren und einen Ausblick zu wagen. Versucht haben das in den zwei Tagen von Bad Schussenried gut 90 Teilnehmer aus Verbänden und Diözesanleitung, aus Dekanaten und Kirchengemeinden sowie aus Beratungs- und Hilfeeinrichtungen.

Maßnahmen tatsächlich mit Tiefenwirkung?

Zu einem wechselseitigen Schulterklopfen kam es dabei nicht. Viel sei erreicht worden, sagte Sabine Hesse, Präventionsbeauftragte der Diözese: „Ob aber das Glas halb voll oder halb leer ist, darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben.“ Eher pessimistisch klang Professor Heiner Keupp (München). Keupp, Sozialpsychologe und auf Bundesebene Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, attestierte der katholischen Kirche zwar, sie habe „Anerkennenswertes“ zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch geleistet: „Aber hat das auch eine Tiefenwirkung?“ Oder sei das alles nur von plakativer Bedeutung, „Schutzkonzepte, die an der Tür hängen?“ Keupp fürchtet aber auch: „Die Chance zu einer inneren Reform [der Kirche] und zu glaubwürdiger Aufarbeitung ist schon lange verspielt.“

Dass nun die Politik, dass der Staat ins Boot müsse, verlangten – wenn auch mit unterschiedlichen  Akzenten – mehrere Teilnehmer. Karl Haucke, Mitglied im Betroffenenrat bei der Bundesbeauftragten für Sexuellen Kindesmissbrauch (UBSKM), verlangte „staatliche Kontroll- und Monitoring-Stellen“ in den Diözesen: „Die Kirche kann’s nicht allein, das hat sie in den vergangenen zwölf Jahren bewiesen.“ Bischof Fürst sagte, „die Politik“ solle sich „stärker des schrecklichen Verbrechens Missbrauch in unserer Gesellschaft annehmen.“ Das geschehe zu wenig.

Am vehementesten sprach sich der Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci, Kirchenbeauftragter der SPD-Fraktion, dafür aus, „die Sache näher an die Politik heranzuholen.“ Er sagte: „Es gibt eine staatliche Mitverantwortung.“ Ferner: „Ich möchte Verbindlichkeit und Tempo in die Aufarbeitung reinbekommen; das fehlt mir.“ Das bisher Geleistete sei unzureichend.

Die Ampel-Koalition arbeitet an einem Gesetz

Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP ist festgehalten, dass die Ampel-Regierung „die Aufarbeitung struktureller sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen Gruppen wie Sportvereinen, Kirchen und Jugendarbeit“ nicht nur „begleiten und aktiv fördern“ will, sondern auch: „Wenn erforderlich, werden wir gesetzliche Grundlagen schaffen.“ Auch soll das Amt des oder aktuell der UBSKM in Gesetzesform geregelt werden.

Castellucci sagte: „Ich leide, wie unbeholfen und schlecht der Umgang der Kirche mit Betroffenen stattfindet.“ Er sieht staatliches Eingreifen offenbar auch als Möglichkeit, nicht nur die Kirche zu retten: „Wir sind im Moment dabei, eine Institution nach der anderen vom Sockel zu stoßen.“ Menschen aber dürften nicht allein auf sich selbst zurückverwiesen sein, „sie brauchen Organisationen.“ Castellucci sagte, er glaube immer noch, dass die Kirche in der Lage sei, „einen Prozess zu gestalten“, mit dem man dann zu anderen Organisationen – Sportbünden beispielsweise – gehen und denen sagen könne, die Kirchen hätten einen „qualvollen“ Prozess zurückgelegt, jetzt aber liege die Aufarbeitung als ein Buch vor: „Und Ihr nun – was macht Ihr jetzt?“

Castellucci schlug „eine Art Stiftung, ein Opfergenesungswerk“ zugunsten der Betroffenen vor und darüber hinaus einen sowohl finanziellen als auch institutionellen Rahmen, in dem sich Betroffene selbst organisieren, und Gremien, in denen sie ihre Interessen vertreten könnten.

Die Zeit der Missbrauchs-Gutachten wird jedenfalls einmütig für beendet gehalten. Professor Keupp sagte, von weiteren Gutachten, sei „ein allgemeiner Zuwachs an Klarheit über Risikofaktoren und systemische Strukturen in der katholischen Kirche nicht zu erwarten.“  Professorin Renate Schepker, Kinder- und Jugendpsychiaterin sowie Chefärztin in Ravensburg, merkte an, „Aufarbeitung von oben“ reiche ohnehin nicht. Es müsse „bei allen Unterstrukturen der Kirche zu einer wirklichen Veränderung der Ethik“ kommen. In diesem Sinne sagte auch Generalvikar Clemens Stroppel: „Prävention muss in den Kirchengemeinden zu einer Haltung werden, nicht so ein einzelner Themenbereich, der entweder behandelt oder nicht behandelt wird.“ Vorbeugung müsse in „Köpfen, Herzen, Seelen“ verankert werden:  „Wir müssen Strategien entwickeln, dort hinzukommen.“

Erzählräume und Erinnerungsorte

Es fehle bis heute auch, so wurde mehrfach beklagt, immer noch an Orten und Möglichkeiten, wo Missbrauchsopfer ihre Erlebnisse frei erzählen könnten, ohne Furcht vor den „immer noch unberechenbaren“ Reaktionen „der“ Kirche haben zu müssen, ohne gleich als Fall für die Psychotherapie  eingestuft, als Opfer „stigmatisiert“ zu werden, ohne sich schämen zu müssen oder gar  – in anderen Fällen – in eine Opferrolle gedrängt zu werden, in die sie gar nicht geraten wollten.

Die Freiburger Professorin Barbara Kavemann (Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch) versuchte, einige Wege zu dem nach ihrer Ansicht kaum erreichbaren Aufarbeitungs-Ziel „Gerechtigkeit“ zu beschreiben: das Anhören der Betroffenen und das Übernehmen von „Zeugenschaft“ für sie; „Anerkennung von Leid und Unrecht“; eindeutige Schuldzuweisungen an die übergriffigen Personen, um das Opfer zu entlasten; bedarfsgerechte und an den jeweiligen Lebensphasen ausgerichtete Unterstützung: viele Betroffene hätten „ihre großen Krisen“ nicht unbedingt gleich nach der Tat, sondern später, etwa in der Lebensmitte: „Dann dürfen sie nicht in der Armutsfalle sitzen und sich in den Müll geworfen fühlen.“

Ferner darf es laut Kavemann „nicht von Glück abhängen, die richtige Therapie zu finden.“ Glück sei „launisch und nie gerecht.“ Und schließlich entstehe mehr Gerechtigkeit durch die Bestrafung der Täter: „Das ist der stärkste Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung von Unrecht, den wir kennen.“ Dabei gehe es nicht um die Höhe der Strafe, sondern um eine Verurteilung an sich: „Man kann Unrecht nicht durch Unrecht ausgleichen, aber durch Rechtsprechung.“

Sozialpsychologe Keupp schlug darüber hinaus vor, „öffentlich sichtbare Erinnerungsorte“ zu schaffen und „die dunkle Seite der Geschichte als Chance einer lebendigen Erinnerung für die Präventionsarbeit zu nutzen.“ Solche Gedenkstätten gebe es bereits in den Klöstern Ettal und Kremsmünster. Aus den Reihen der Teilnehmer kam ein anderer Vorschlag: Es sei besser, solche Gedenkstätten abseits von Kirchengebäuden einzurichten. Es gebe Opfer, die solche Erinnerungsorte für sich selber bräuchten – aber keinen Fuß mehr über irgendeine kirchliche Schwelle setzen wollten.

 

Moderator war Holger Specht, inmedio Berlin
Bischof Fürst zur Situation in der Diözese
Pädagogisches Material für Kitas, …
…dazu Konzepte und Projekte an den Infoständen.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci und Bischof Gebhard Fürst
Astrid Mayer, Betroffeneninitiative, Renate Schepker, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter, Bischof Gebhard Fürst und Karl Haucke, UBSKM-Betroffenenrat (v.l.n.r.)