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Hohenheimer Tage

Globalisierung der Gleichgültigkeit

Wo steht die deutsche und europäische Migrationspolitik - was muss sich ändern? Darüber sprach der Autor Heribert Prantl bei den Tagen des Migrationsrechts an der Akademie.

Von Heribert Prantl

Wer hätte gedacht, dass Politik zu so grundstürzenden Entscheidungen fähig ist? Wer hätte gedacht, dass sie in ganz Europa das Alltagsleben aller Menschen auf den Kopf stellt, um Leben von gefährdeten Menschen zu retten? Bis dahin schien es so, als sei das ungeschriebene Grundrecht auf ungestörte Investitionsausübung das wichtigste Grundrecht von allen. Bis dahin nannte man es Eigenverantwortung, wenn Schwache sich selbst überlassen blieben. Aber auf einmal war alles anders. Die Politik begriff: Es geht um Leben und Tod. Es muss gehandelt werden. Auf einmal war Solidarität das Wort der Stunde, der Tage und der Monate.

Schockierende Bilder aus Italien hatten zu dieser Erkenntnis verholfen. Es waren Bilder von Särgen, von unendlich vielen Särgen, aneinandergereiht und aufeinandergestapelt. Die Menschen darin, sie waren erstickt, gestorben in Einsamkeit und Verzweiflung; ihre Angehörigen konnten nicht bei ihnen sein – nicht in ihren letzten Stunden, nicht bei ihrer Beisetzung. Man hörte die Interviews mit den Ärzten, die das namenlose Leid kaum mehr aushielten. Das große Sterben war ein massenhaftes Krepieren. Es machte Angst.

Der Schock nach Lampedusa hielt nicht lang

Davor sollten die Menschen geschützt werden, koste es, was es wolle – whatever it takes. Einen solchen Satz des unbedingten Rettungswillens hatte man zuvor nur dann gehört, wenn es um Währung und Wirtschaft ging, darum, den Euro zu retten. Jetzt galt dieser Satz den gefährdeten Menschen: In ganz Europa wurden Fabriken und Betriebe geschlossen – um den Preis der größten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Schulen wurden zugesperrt, die Kindergärten und Spielplätze, die Theater, Geschäfte und Restaurants. In den Krankenhäusern wurden terminierte Operationen verschoben, um Platz frei zu halten für die Opfer der Katastrophe. Wer dies infrage stellte, galt als hartherzig und egoistisch. Je rigoroser Politiker handelten, umso mehr wurden sie geliebt.

Die Bilder der Särge aus Bergamo des Jahres 2020 glichen den Bildern der Särge aus Lampedusa nach dem Kentern eines Flüchtlingsschiffes 2013. Der Schock nach Lampedusa hielt nicht lang. Der Schock nach Bergamo hält bis heute an; er bewirkt, dass viele Menschen die Rettungsmaßnahmen nicht nur ertragen, sondern mittragen. Das bringt einen ins Sinnieren: Die Zahl der Flüchtlinge steigt und steigt; es steigt auch die Zahl derer, die im Mittelmeer krepieren. Es sind hier nicht, wie bei Corona, die Rettungsmaßnahmen alternativlos, sondern, so vermittelt es die Politik, das Elend und das Sterben. Refugee lives don’t matter?

Ein EU-Asylkonzept steht nur auf dem Papier

Seit über einem Vierteljahrhundert ist nun vom europäischen Verantwortungszusammenhang die Rede, der sich alsbald entfalten werde. Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther hat 1995 davon geschwärmt. Die Einschränkungen des Asyl-Grundrechts seien der Preis, den Deutschland für das kommende gemeinsame EU-Asyl- und Aufnahmekonzept erbringen müsse. Seitdem kündigen alle deutschen Innenminister ein solches EU-Asylkonzept an. Es steht nur auf dem Papier; und selbst dort wird es immer schärfer. Zum Auftakt der deutschen Ratspräsidentschaft am 1. Juli 2020 hatte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer Schnellverfahren in Asylzentren an den Außengrenzen propagiert – dort soll eine Vorprüfung feststellen, dass der Asylantrag bei der großen Mehrzahl aussichtslos ist; die Flüchtlinge sollen dann sofort wieder abgeschoben werden; zurück in Herkunfts- oder Drittstaaten, von denen behauptet wird, sie seien jedenfalls teilweise sicher. Der EU-Verantwortungszusammenhang sähe demzufolge also so aus: aus den Augen, aus dem Sinn. Das Asylrecht bleibt, das Asylverfahren auch; aber immer weniger Flüchtlingen soll es möglich sein, dieses Recht zu beantragen und die Gründe ihrer Flucht überprüfen zu lassen: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht; aber nicht in Europa.

Dieses Motto ist für mich mit dem Nikolaustag des Jahres 1992 verbunden. Dieser Tag gehört zu den schwarzen Tagen meines Journalistenlebens.  An diesem Tag wurde einer der schandbarsten Kompromisse der bundesdeutschen Geschichte geschlossen; dieser Kompromiss wird, wegen des Tages, an dem er beschlossen wurde, „Nikolaus-Kompromiss“ genannt. Das klingt nach guten Gaben, nach Punsch und Besinnlichkeit. Doch dieser Beschluss der Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, SPD und FDP war weder gut noch besinnlich. Er postulierte das Ende des alten Asylgrundrechts; er strich den Artikel 16 Absatz 2 aus dem Grundgesetz, der das Asylrecht seit dem Jahr 1949 uneingeschränkt garantiert hatte; man ersetzte ihn durch einen sehr langen, sehr verquollenen Artikel 16 a, der aus dem Asylgrundrecht ein Grundrechtlein machte. Ich habe ebenso oft wie vergeblich gegen diese Untat angeschrieben.

Aus dem Asylgrundrecht wurde ein Grundrechtlein

Die Grundgesetz-Änderungen waren, sie wissen es alle, die politische Reaktion auf die ausländerfeindlichen Pogrome in Mölln und Rostock-Lichtenhagen, diese Änderungen wurden sozusagen im Schein der dort angezündeten Häuser geschrieben: Die Parteien hatten sich des Terrors gegen Ausländer und Flüchtlinge nicht anders zu erwehren gewusst als mit der Änderung des schon lang von Politik verketzerten Grundrechts. Den terrorisierten Flüchtlingen wurde, um sie angeblich zu schützen vor den dadurch vermeintlich besänftigten Flüchtlingshassern, der grundrechtliche Schutz entzogen. An dem Tag, an dem dies beschlossen wurde, demonstrierten in München 400 000 Menschen gegen den Ausländerhass – die Münchner Lichterkette war die erste große Lichterkette in der Demonstrationsgeschichte der Bundesrepublik.

Der Anti-Asyl-Kurs mündete in der Änderung des Asylgrundrechts mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag – am 26. Mai 1993, drei Tage vor den Solinger Morden. Am 29. Mai 1993 kamen bei einem rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc in Solingen-Mitte fünf Menschen türkischer Abstammung ums Leben; 17 Menschen erlitten zum Teil schwerste Verletzungen. Auf dem Weg zum Tatort in Solingen las Heiko Kauffmann, der damalige Vorsitzende von Pro Asyl, den dort auf eine Hausmauer gesprühten Satz: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.“

Die SPD wollte damals ein Einwanderungsgesetz als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Asylgrundrechtsänderung haben. Es wurde freilich in dem zwischen CDU/CSU und SPD formulierten Asylkompromiss nur in völlig unverbindlicher Form erwähnt. Es kam bis zum heutigen Tag nicht zustande. Olaf Scholz stand zu dieser Zeit ganz am Beginn seiner politischen Laufbahn, er schickte sich an, SPD-Vorsitzender von Hamburg-Altona zu werden. Günter Grass war damals aus Protest gegen das Einknicken der SPD in der Asylpolitik – erst war es Oskar Lafontaine, dann auch Gerhard Schröder - aus der Partei ausgetreten. Aber Olaf Scholz traf sich immer wieder mit Grass, auch auf öffentlicher Bühne. Ob in der Politik eine Verbindung von Pragmatismus und Visionen gelingen könnte, wollte der Jungpolitiker Olaf Scholz damals von Grass wissen. Und der antwortete mit Verweis auf Willy Brandt – und dessen visionäre Ostpolitik: Ja, die Verbindung von Pragmatismus und Vision sei möglich. Jetzt, in dieser Legislaturperiode, am Exempel der Flüchtlingspolitik, wird sich zeigen, ob und was Scholz davon behalten hat.

Will die SPD jetzt späte Buße leisten?

Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition wird nämlich nicht weniger als ein Paradigmenwechsel angekündigt:  In diesem Koalitionsvertrag hat die SPD wohl versucht, späte Buße zu leisten für die Zustimmung der Partei zum schandbaren Asylkompromiss vor dreißig Jahren. Unter der Verhandlungsführung des niedersächsischen SPD-Innenministers Boris Pistorius hat sie flüchtlingsfreundliche Korrekturen im Asylrecht angekündigt und zusammen mit den Grünen und der FDP in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wir erinnern uns: Damals, 1992, wollte die SPD ein Einwanderungsgesetz als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Asylgrundrechtsänderung haben. Es wurde dann freilich in dem zwischen CDU/CSU und SPD formulierten Asylkompromiss nur in völlig unverbindlicher Form erwähnt – und kam bis zum heutigen Tag nicht zustande. Im Koalitionsvertrag ist jetzt, dreißig Jahre später, ein Einwanderungsrecht vorgesehen.

„Der Fortschritt unser Völker bemisst sich vor allem an der Fähigkeit, sich von den Schicksalen derer berühren und bewegen zu lassen, die an die Tür klopfen“ – sagt Papst Franziskus. Manche Sätze im Regierungsprogramm der Ampel-Koalition lesen sich wie eine Antwort auf solche Sätze von Papst Franziskus:  „Die Ursachen von Flucht angehen“, heißt es da im Koalitionsvertrag; und „die Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“; und „die zivile Seenotrettung  darf nicht behindert werden“; „ und: „sicherstellen, dass Menschen nach der Rettung an sichere Orte gebracht werden“; Und es heißt im Koalitionsvertrag weiter: „Frontex soll sich bei der Seenotrettung aktiv beteiligen“ Gewiss: solche Worte sind wohlfeil und der Weg zur Umsetzung ist weit. Aber in den Regierungsprogrammen der vier Regierungen Merkel hat man so etwas nicht gelesen.

Unter Kohl entstand ein Flüchtlingsabwehrmodell

Vor dreißig Jahren, zur Zeit der Regierung Kohl, hat die Bundesrepublik mit dem neuen deutschen Asylrecht ein Flüchtlingsabwehrmodell geschaffen, das sodann europäisiert wurde; es war und ist dies ein System, in dem die einzelnen Staaten, Deutschland im Zentrum, sich beim Flüchtlingsschutz möglichst für unzuständig erklären. Dieses System hat Europa entsolidarisiert. Diese Entsolidarisierung schadet Europa und den Flüchtlingen. Es ist deshalb Zeit für einen neuen Geist in der Flüchtlingspolitik. Es braucht neue diplomatische Initiativen. Es braucht einen spektakulären Anstoß. Auch die schönsten Predigten und Botschaften reichen nicht mehr. Ich habe deshalb vor ein paar Wochen in der Samstag-SZ vorgeschlagen, dass Papst Franziskus die Staaten und die Kirchen zu einer europäischen Flüchtlingskonferenz in den Vatikan einladen sollte.

Der Papst hat nun so oft die Gleichgültigkeit verdammt. Diese verdammte Gleichgültigkeit war und ist der Versuch, die Verbindung mit dem Schicksal der Elenden zu leugnen. Gleichgültigkeit heißt, sich unverantwortlich fühlen für das, was ist und für das, was geschieht. Diese Gleichgültigkeit funktioniert so: Sie registriert die Flüchtlinge nur als Zahl; sie macht die Menschen zur Nummer, zu Wesen ohne Schicksal – weil deren Elend und deren Tod besser zu ertragen sind, wenn man sie auf diese Weise entmenschlicht.

Grobe Töne in amtlichen Verlautbarungen

 Es ist eine Entmenschlichung, das Leben der Flüchtlinge vor ihrem Elend gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen; sie hatten ein Leben, eine Heimat, eine Familie, Kinder – aber keine Zukunft mehr, aus welchen Gründen immer.  Gewiss: Nicht alle Flüchtlinge fliehen vor Krieg und Verfolgung; nicht wenige suchen schlicht eine bessere Zukunft für sich und vor allem für ihre Kinder. Human behandeln muss man auch die, die keinen klassischen Asylgrund haben. Humane Behandlung besteht nicht schon darin, im Flüchtlingslager auf Lesbos die Zelte durch Container zu ersetzen und dort ein paar Klohäuschen aufzustellen, die Lager aber ansonsten als Gefängnisse zu führen. Flüchtlinge gelten als Teil einer bedrohlichen Masse; von „Menschenfleisch“ hat vor etlichen Jahren der damalige italienische Innenminister Salvini von der rechtsextremen Partei Lega verächtlich gesprochen. Das ist die Sprache der Unmenschlichkeit; sie darf nicht abfärben. In einer Runde von Bürgermeistern, bei der über Fragen von Migration und Integration geredet wurde, klagte vor einiger Zeit eine Teilnehmerin über die groben Töne, die sich auch in amtlichen Verlautbarungen artikulieren. Ihr Zwischenruf, dass man doch mit Menschen zu tun habe, wurde mit genervtem Stöhnen quittiert.

 „Unveräußerlich“ seien die Menschenrechte,  so heißt es in den feierlichen Erklärungen. Die Menschen kommen aber nicht schon deshalb zu ihren Rechte, zu den Menschenrechten, weil die in diesen Erklärungen aufgeschrieben sind. Sie müssen auch durchgesetzt werden. Schon 1789, als die Menschenrechte zum ersten Mal formuliert wurden, zeigten sich die Schattenseiten solch aufgeklärter Erklärungen:  Die Rechte des Menschen galten nicht für die Menschen, die man vom Menschsein ausgeschlossen hatte - um sie kolonisieren zu können. Der Kampf der Sklaven um Befreiung war ein Kampf um ihre Anerkennung als Mensch, mit dem Recht auf Leben und Freiheit und Entfaltung. Die europäische Flüchtlingspolitik darf nicht in so ein sklavisches Denken zurückfallen. Diese Gefahr besteht; im Grenzregime an den Außengrenzen der EU hat sie sich schon realisiert.

Corona hat die Aufmerksamkeit wegkonzentriert

Zurück zu Corona: Corona hat die Aufmerksamkeit von den Flüchtlingen wegkonzentriert. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern auf den Inseln der Ägäis waren und sind desolat. Man überlässt die Flüchtlinge zur Abschreckung dem Dreck, dem Virus, dem offenen Meer. Die EU-Staaten haben alle Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer eingestellt. Im März 2020, als hierzulande alles mit dem Lockdown beschäftigt war, begann die Türkei Flüchtlinge geradezu aus dem Land heraus und über die griechische Grenze zu drängen. Im Mittelmeer spielen beide Staaten mittlerweile Wasser-Ping-Pong mit den Booten. Push-Back heißt die Spieltaktik.

Man schaut der Seenot der Flüchtlinge tatenlos zu, oder hilft den Griechen sogar beim Push-Back. Ostern 2020: Die zwei Aufklärungsflugzeuge von Frontex wurden zwar zur Beobachtung losgeschickt; Eagle 1 hat, wie gesagt, an Ostern 2020 war das, drei Flüchtlingsboote überflogen und nach einem vierten gesucht. „AlarmPhone“, eine Notruf-Initiative für Flüchtlinge, hat das dokumentiert. Die Positionsdaten der Tracker von Flugzeugen und Schiffen sind nämlich öffentlich. Weder Frontex noch Küstenwachen hatten bei den dokumentierten Flügen Rettungseinsätze eingeleitet. Osterbilanz damals: zwölf Tote, ein Boot wurde im Auftrag Maltas nach Libyen zurückgebracht. Frontex zog eine Lehre eigener Art: Man schaltete die Transponder der Flugzeuge ab, um die Flüge und das Sterben im Meer unsichtbar zu machen.

Flüchtlinge werden unsichtbar gemacht

Anfang Dezember 2020 wurden zu solchen Push-Back-Aktionen unter den Augen und mit Hilfe von Frontex im Innenausschuss des EU-Parlaments Bild- und Tondokumente vorgelegt. Mehrfach, so lauten die Vorwürfe, habe Frontex Kenntnis von in Seenot geratenen Schiffen gehabt, aber nichts getan zur Rettung. Frontex-Chef Fabrice Leggeri meinte dazu in dem Bericht, der dazu von seiner Dienstherrin, der EU-Kommissarin Ylva Johansson, gefordert wurde, das seien „Missverständnisse“. Die Abgeordneten indes glaubten ihm das nicht, weil einige Frontex-Mitarbeiter, offenbar von Gewissensbissen geplagt, die Vorwürfe bestätigten.

Flüchtlinge unsichtbar machen – das gelang und gelingt während der Corona-Krise gut. Die Schiffe von Hilfsorganisationen wurden immer wieder in Häfen festgehalten. Erinnern wir uns: Der „Globale Pakt für Migration“ ist zum 70. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte im Dezember 2018 in Marrakesch unterzeichnet worden. Er sagt, dass Menschen auch dann Menschen sind, wenn sie flüchten oder vertrieben werden. Er besagt, dass es gut wäre, die Lebensverhältnisse so zu verbessern, dass Menschen nicht mehr fliehen müssen. Er besagt, dass die Staaten es den Umherirrenden schuldig sind, sie nicht als Feinde zu behandeln. Dieser Pakt braucht coronale Anstrengungen.

Einmal, ein einziges Mal während der Corona-Krise, lenkte eine Katastrophe den Blick der Öffentlichkeit auf das Elend der Flüchtlinge – als das Flüchtlingslager Moria in der Ägais brannte. Aber auch von dieser Katastrophe im September 2020 ließ sich die deutsche und die europäische Politik wenig rühren. Moria war eines der vielen Lager, die der Abschreckung dienen – dort werden Flüchtlinge, Familien, Kinder der Abschreckung geopfert. Refugee lives don’t matter: Das ist das heimliche Motto der Flüchtlingslager in der Ägäis. Im Lager Moria lebten zwanzig- oder dreißigtausend Menschen unter unbeschreiblichen Zuständen: einen Wasserhahn für jeweils Tausende. Versprechungen der deutschen Politik, wenigstens ein winziges Kontingent von Kindern und Jugendlichen von der Insel nach Deutschland zu holen, sind nicht neu, die gibt es nicht erst, seitdem Moria abgebrannt ist. Die gab es schon vorher: Sie wurden nicht oder nur zögerlichst erfüllt.

„Leg deine Hand nicht an das Kind und tu ihm nichts"

Der Name "Moria" steht nicht erst heute für ein furchtbares Geschehen. Er steht für die Praxis des Menschenopfers und zugleich für dessen Abschaffung. Moria ist der Ort, an dem ein Vater seinen Sohn töten will – weil der Gott dies befiehlt. Der Vater ist Abraham, der Urvater und Namensgeber der abrahamitischen Weltreligionen; deren Urmythos ist die Erzählung von der „Bindung Isaaks". In der christlich-jüdischen Variante findet man die grausige Geschichte im Buch Genesis: Abraham soll zur Prüfung seines Gehorsams in Moria seinen Sohn Isaak töten – als Brandopfer, als Menschenopfer. Kinder opfern, um Gott zu befrieden. Abraham folgt der göttlichen Stimme; er hat seinen Sohn schon festgebunden auf den Holzscheiten und hebt das Messer – da öffnet sich der Himmel: „Leg deine Hand nicht an das Kind und tu ihm nichts", ruft ein Bote Gottes im letzten Moment und macht so dem schaurigen Spuk, der angeblichen Gehorsamsprüfung, ein Ende.

So sadistisch diese Geschichte anmutet, wenn man sie von ihrem Anfang her sieht, so humanisierend ist sie, wenn man sie von ihrem Ende her betrachtet. Religionsgeschichtlich markiert diese Erzählung einen Wandel im Gottesbild, nämlich die Abkehr von einem Gott, dem man Kinder opfern muss, um ihn zu befrieden. Es ist eine Geschichte, die empört und beunruhigt und provoziert, für heutige Leser wirkt sie archaisch und aus der Zeit gefallen. Sie ist aber nicht so aus der Zeit gefallen, wie man meint: Auch heute sind Menschen bereit, für einen Gott, für eine Religion, für eine höhere Sache Menschen zu opfern. Der fanatische Fundamentalismus handelt genau davon.

Ersetzen wir das Wort Gott durch ein anderes – durch das Wort "Realpolitik" zum Beispiel, oder durch das Wort "Sachzwänge": Es gibt die Politik, die den Tod von Menschen wegen angeblicher Sachzwänge, wegen höherer Interessen in Kauf nimmt. Diese Politik heißt Flüchtlingspolitik. Sie wird exekutiert im Mittelmeer. Die Zahl der Flüchtlinge, die dort ertrinken, steigt und steigt. Es sind hier aber nicht, wie bei Corona, die Rettungsmaßnahmen alternativlos, sondern, so vermittelt es die Politik, das Elend und das Sterben. Das Moria von heute liegt auf der Insel Lesbos, die Flüchtlinge waren nach dem Brand obdachlos, zum Teil nächtigten sie auf dem Friedhof. In Moria 2, dem Nachfolgelager Moria 1, ist es nicht anders. Die hygienischen Bedingungen, die Versorgungs- und Sicherheitslage im Lager Kara Tepe auf der Insel Lesbos sind, wie Hilfskräfte berichten, zum Erbarmen.

Moria: Der Himmel hat sich in der Ägäis, anders als in der biblischen Geschichte,  nicht geöffnet. Es gab keine Rettungsaktionen, die diesen Namen verdienten. Es gab keine Hilfe, die diesen Namen verdiente. Es gab das Versprechen von Deutschland und Frankreich, ein paar hundert Kinder aufzunehmen.

Zynische Politik: Es geht um "Menschenopfer" zur Abschreckung

Der Brand hat die Blicke, aber auch die Gehässigkeiten nach Moria gelenkt: Wahrscheinlich waren es, so sagt es sogleich die griechische Regierung und so wiederholen es genüsslich die extremistischen Populisten in ganz Europa, Flüchtlinge, die das Lager angezündet haben. Wenn es wirklich so gewesen sein sollte – dann war es ein Fanal der Verzweiflung. Darf man deswegen die Hilfe verweigern, eine Hilfe, die obdachlose Familien, die verzweifelte Kinder bitter nötig haben? Darf man, wenn es so war, den Brandstiftern sagen: selber schuld? Schickt man bei einer Massenkarambolage, die ein betrunkener Autofahrer verursacht hat, die Rettungswägen nicht? In der Stunde der Not fragt man nicht, wie jemand in diese Not gekommen ist. Man hilft – so gut es nur geht. Danach, wer den Schaden angerichtet hat, fragt man später.

Die alten Moria-Bilder, von der Opferung des Isaak, hat Rembrandt gemalt, sie hängen in der Eremitage von Sankt Petersburg und in der Münchner Alten Pinakothek. Im Kölner Dom gibt es ein großes Mosaik davon. An Kloster- und Kirchenportalen findet man Reliefs. Heute gibt es die Bilder in den Fernsehnachrichten. Der schon zitierte Matteo Salvini, ein Politiker der rechtsradikalen Lega Nord, er war von Juni 2018 bis September 2019 italienischer Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident, hat mit brutalpopulistischer Offenheit gesagt, worum es ihm bei der Flüchtlingspolitik geht: um "Menschenopfer", zur Abschreckung. Viele andere europäische Politiker denken das auch. Sie sagen das nur nicht so brutal. Und sie verweigerten sich einer großen Hilfsaktion für die obdachlosen Flüchtlinge des Lagers Moria, weil sie fürchteten, dass solche Hilfe neue Flüchtlinge anlocken könnte. Deswegen blieben die Bitten, die Forderungen von Teilen der deutschen Bürgergesellschaft, die Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, unerhört.

Nur der Name der größten Hetzer ändert sich

Die Hilfsbedürftigen wurden Mittel zum abschreckenden Zweck. Ihnen wurde nicht geholfen, sie werden in den Dreck getreten. Die bisherige Regierungspolitik, zumal die der Christlich Demokratischen Union und der Christlich-Sozialen Union, fürchtete sich vor der AfD und deren Agitation. Diese Furcht war größer als der Respekt vor den Grundsätzen der Menschlichkeit. Das ist der rote Faden der Politik seit Jahrzehnten. Nur der Name der größten Hetzer ändert sich. Einst waren das die Republikaner, heute ist es die AfD

Sollen die Flüchtlinge halt nicht aufs Wasser gehen! Sollen sie nicht auf die Ägais-Inseln drängen! Ich habe in meinen Newslettern meine Leserinnen und Leser gefragt: Wenn Sie eine Mutter wären in der zerbombten syrischen Stadt Idlib, was würden Sie tun? Idlib war einst eine Provinzstadt mit offiziell 160 000 Einwohnern; nun leben hier eine Million Menschen, im Chaos. Idlib wird – so war das jedenfalls im Frühjahr 2020 – von einem islamistischen Bündnis kontrolliert. Raketen schlagen ein. Die Truppen Assads, unterstützt von der russischen Luftwaffe, standen nur wenige Kilometer vor der Stadt.

Das Regime betrachtet die Menschen in Idlib als Landesverräter, auch die Zivilisten, auch Frauen und Kinder. Angst geht um, schreckliche Angst. Beobachter bezeichnen die Region als Killbox. Wenn Sie eine Mutter wären, was würden Sie tun – so habe ich gefragt? Sie würden, irgendwie, irgendwo, mehr Sicherheit suchen. So viel Sicherheit wie möglich. Vor allem für Ihre Kinder. Idlib-Stadt ist dreißig Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Dort hat Erdoğan eine vierhundert Kilometer lange Betonmauer bauen lassen, um Flüchtlinge aufzuhalten. Türkische Soldaten schießen auf Menschen, die hinüberklettern wollen. Dutzende von Zeltstädten sind vor dieser Mauer entstanden. Wenn Sie als Familienvater mit Ihren Kindern in einer dieser windigen und eiskalten Zeltstädte hausen müssten, die sich dort gebildet haben – was würden Sie tun? Die Böden sind matschig von Regen und Schnee. Um sich vor dem Frost zu schützen, heizen die Flüchtlinge in ihren Zelten. Es sind nicht wenige erstickt an Kohlendioxidvergiftung. Kriminalität grassiert, Prostitution. Wenn Sie als ein Vater mit Ihren Kindern dort wären, was würden Sie tun?

Was würden Sie tun?

An mehreren Stellen, so schrieben die Korrespondenten des Berliner Tagesspiegel, wurden Tunnel unter die Betonmauer gegraben. Schmuggler nehmen 300 Euro pro Person. Was würden Sie, so fragte ich meine Leserinnen und Leser,  machen, wenn Sie noch Geld hätten? Aufgeben, umkehren? Was würden Sie machen, wenn Sie es als Vater oder Mutter, als Großvater oder Großmutter, mit Kindern und Enkelkindern schon in den letzten Jahren in die Türkei geschafft hätten? Was würden Sie machen, wenn Präsident Erdoğan Sie nun aus dem Land weisen, wenn er die Grenzen Richtung Griechenland, Richtung Europa öffnen würde?

Sie würden vielleicht doch versuchen, der Not und Perspektivlosigkeit zu entrinnen, irgendwie. Und wenn Sie es versuchen, nachdem Ihnen Schmuggler das letzte Geld, das Handy und die Schuhe abgenommen haben, was würden Sie tun: Aufgeben? Umkehren? Was würden Sie tun, wenn griechische und europäische Sicherheitskräfte Sie mit Tränengas beschießen? Wenn scharf geschossen wird, um Sie am Überqueren der Grenze zu hindern? Und was würden Sie hoffen, wenn Sie auf der Flucht ihre Kinder verloren haben? Was würden Sie hoffen, wenn Sie Kinder irgendwo in dreckig-unsicherer Sicherheit glauben, in einem Lager auf den griechischen Inseln Lesbos, Kos, Samos? Was wären Ihre ersten Gedanken, wenn Sie überhaupt nicht mehr wüssten, ob und wo Ihre Kinder leben? Was wären Ihre letzten Gedanken, wenn Sie, als Familie zersprengt, spüren, dass es mit Ihnen selbst zu Ende geht nach all den Strapazen?

Wir müssen handeln, wie wir behandelt werden wollten

Der Deutsche Bundestag hat in der vergangenen Legislaturperiode mehrere Anträge der Grünen abgelehnt, wenigstens Frauen und unbegleitete Kinder aufzunehmen und aus dem Dreck und der Not der Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln zu erlösen. CDU/CSU und SPD warteten lieber auf europäische Initiativen, auf europäische Lösungen. Diese angeblichen europäischen Lösungen beruhten bisher auf dem jetzt gescheiterten Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und auf dem Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn."

Was soll mit den Geflüchteten geschehen? Was sollen wir, was soll der Deutsche Bundestag, was soll die deutsche und die europäische Politik, mit ihnen machen? Die Antwort auf diese Frage ist eine Schlüsselantwort: Handeln wir, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären. Es ist dies eine Ur-Regel, die aurea regula, die Goldene Regel. Als Sprichwort lautet sie so: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu."

Niemand würde es wollen, dass man auf ihn oder seine Kinder mit Tränengas schießt. Niemand würde es wollen, dass er oder seine Kinder im Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln verkommen. Auch Alexander Gauland und Alice Weidel würden das nicht wollen, auch die Pegidisten würden das nicht wollen. Handeln wir so, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären: Die Konsequenz aus dieser Regel waren und sind die Flüchtlingskonventionen, die Charta der Menschenrechte, die Europäische Grundrechte-Charta. Es ist ein gewaltiger Fortschritt, dass es all dies gibt. Es war ein historischer Fortschritt, dass sich also die Völker und die Nationen verpflichtet haben, Flüchtlinge zu schützen.

Aber das Papier allein schützt die Flüchtlinge nicht. Im Angesicht der Not der Flüchtlinge aus Syrien und aus den Hunger- und Bürgerkriegsländern Afrikas muss sich zeigen, ob diese Konventionen mehr sind als ein Wasserfall von Phrasen. Wenn europäische Kernländer Menschen in höchster Not nicht aufnehmen, weil sie angeblich den falschen Glauben oder die falsche Kultur oder Hautfarbe haben – dann ist das ein Hochverrat an den Werten, deretwegen die Europäische Union gegründet wurde, und ein Vorwand für verbrecherische Hitzköpfe, vermeintliche Notwehr zu üben gegen die Flüchtlinge.

Menschenwürde ist nicht aus Seife, sie nützt sich nicht ab

Europa lebt nicht nur vom Euro; es lebt von seinen Werten, von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Person, der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und der Freizügigkeit. Europa lebt davon, dass es die Menschenwürde schützt. Die Menschenwürde ist nicht aus Seife, sie nützt sich nicht ab, nur weil es angeblich zu viele sind, die sich auf sie berufen. Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären. Dieser Satz löst das „survival of the fittest" ab. Nicht Stärke und Anpassungsfähigkeit sind es, die das Leben sichern – nein, die Geltung des Rechts ist die Lebensversicherung. Wer das Recht, auch das Recht der Flüchtlinge, abwehrt, der verwandelt die Gesellschaft in ein Haifischbecken. Das Wesen des Rechts besteht darin, dass es aus dem Haifischbecken eine Gesellschaft formt. Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären. Dieser Satz ist also nicht nur eine Grundlage für die Gewissenserforschung von Staats- und Kommissionspräsidenten, von Ministern, Parlamentsabgeordneten und Parteipolitikern, er ist nicht nur moralische Handlungsanleitung für den politischen Betrieb und für Jedermanns Alltag.

Das gilt auch für die Situation in Belarus, für die Situation im Grenzgebiet zwischen Weißrußland und Polen, die uns in den den vergangenen Monaten so beschäftigt hat. Lukaschenko ist ein Despot, ein Gewaltherrscher, ein Diktator. Es tut weh, wenn es ausgerechnet ihm gelingt, die EU als Menschenrechtsverletzer vorzuführen. Er schickt die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die er in sein Land gelockt hat, weiter nach Polen, Polen schickt sie wieder zurück. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Die Flüchtlinge irrten und irren wochenlang durchs Niemandsland an der östlichen Außengrenze der EU, an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Sie finden keine Hilfe, keinen Schutz, sie finden niemanden, der sie registriert, sie finden niemanden, der sie anhört oder sie, wenigstens vorübergehend, aufnimmt. Das Grenzgebiet wurde zum Billardtisch; die Männer, Frauen und Kinder aus den Kriegsgebieten der Erde sind die Billardkugeln.

Am Spieltisch sitzen nicht nur Belarus und Polen, da sitzt auch die EU, da sitzen, im Hintergrund, Putin und Erdoğan.

Lukaschenkos zynisches Spiel geht auf

Polen behandelt die Flüchtlinge, als wären sie die Spießgesellen von Lukaschenko. Sie sind es aber nicht, sie sind Opfer. Es handelt sich um Menschen, die aus den Kriegsgebieten der Erde kommen; sie sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit, höchst schutzbedürftig und schutzberechtigt. Es ist überhaupt nicht verwerflich, dass Menschen, die Schutz und Hilfe brauchen, Schutz und Hilfe wollen. Dass sie es in ein Flugzeug geschafft haben, nimmt ihnen nicht ihre Schutzbedürftigkeit; dass sie den Weg über Belarus genommen haben, auch nicht. Eine kollektive Abwehr und Abstoßung dieser Menschen ohne Prüfung verstößt gegen jedwedes Recht - nationales Recht, Europarecht, Völkerrecht.

Genau das wollte der Großmenschenrechtsverletzer Lukaschenko zeigen. Er legte den Finger in die Wunde; er entlarvte die Bigotterie in der europäischen Flüchtlingspolitik, deren Konventionen, Verträge und gesetzliche Regeln Schutz versprechen, aber im Ernstfall die Versprechen nicht halten. Der Ernstfall ist für die EU-Politik dann, wenn tatsächlich oder vermeintlich zu viele Menschen Schutz wollen. Nun waren, nun sind die etwa zehntausend Menschen, die im Grenzgebiet von Polen und Belarus vegetierten, nicht wirklich viele; zumal nicht im Vergleich mit den Flüchtlingszahlen des Jahres 2015. Aber der Ernstfall liegt für die EU schon dann vor, wenn es viele werden könnten. Deshalb praktiziert die EU Abschreckung. Auf den Inseln des Mittelmeers sind Flüchtlingslager die Orte der Abschreckung.

An der osteuropäischen Grenze besteht die Abschreckung in mitleidloser Kollektivabweisung - sie wird von Polen praktiziert und von anderen EU-Mitgliedsländern und der EU unterstützt und goutiert: Man bietet Polen nur Hilfe bei der Grenzsicherung und der Abweisung an, nicht aber eine humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge. In seinen letzten Amtswochen offerierte der deutsche Innenminister Seehofer den Polen Hilfe zur "baulichen Sicherung" der Grenze offeriert - ausgerechnet am Tag des Mauerfalls! Und er hat den Polen die Polizeikräfte von Frontex angedient, der Europäischen Grenzschutzagentur, die im Mittelmeer illegale Pushbacks bereits praktiziert.

Flüchtlingsschutz erfriert in den Wäldern Osteuropas

Sollen die illegalen Pushbacks im Fall Belarus/Polen legalisiert und damit auch normalisiert werden? Diesem Ziel dient das martialische Vokabular, diesem Ziel dienen die Unterstützungsangebote für Polen bei der Grenzsicherung: EU-Politiker sprachen von einer hybriden Taktik Lukaschenkos, von einem "hybriden Krieg", den er praktiziere; "hybrid" meint einen Angriff mit konventionellen und irregulären, auch terroristischen Kampfweisen. Es war und ist dies der Versuch, aus der Zurückweisung der schutzsuchenden Menschen, also aus einem im Flüchtlingsrecht strikt verbotenen Akt, einen angeblich gebotenen Akt der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen - durch die Art und Weise, wie man das Problem beschreibt.

Den Schutzberechtigten wird der Schutz verweigert, weil diese Verweigerung der Abwehr des Angriffs dient. Auf diese Weise wird der Flüchtlingsschutz militärisch überrollt und marginalisiert. Es besteht die Gefahr, dass er in den Wäldern Osteuropas erfriert.

Lukaschenko ist ein verbrecherischer Wicht. Aber er könnte seinen Finger nicht in die Wunde der EU legen, wenn es diese Wunde nicht gäbe. Die EU kann von ihm nur deswegen erpresst werden, weil sie das Flüchtlingsrecht verrät. Mit seiner Änderung des Asylgrundrechts 1993 war die Bundesrepublik ein Vorreiter bei der Flüchtlingsabwehr: Die Verantwortung für Flüchtlinge wurde an die Nachbarstaaten der Bundesrepublik abgeschoben. Das Dublin-System hat das für ganz Europa übernommen: Die Verantwortung für Flüchtlinge wurde auf die europäischen Randstaaten verlagert, auf die EU-Staaten also, die Flüchtlinge auf ihrer Flucht als Erstes betreten.

Die EU muss echte Solidariät zeigen

Outsourcing von Flüchtlingen: Das war auch die erste Erfahrung, die Polen in den frühen Neunzigerjahren mit Deutschland und Europa gemacht hat. Den Polen wurde ein Rückführungsabkommen aufgezwängt, um Zehntausende von Flüchtlingen aus Deutschland abschieben zu können. Solidarität war das nicht. Polen war entsetzt; man klagte über einen neuen deutschen Überfall. Ich erinnere mich an die Gespräche, die wir seinerzeit in Warschau geführt haben. „Wir“ – das war die von Klaus Barwig im Februar 1993 geleitete Reise nach Polen mit 32 Teilnehmern, bei der es um die Auswirkungen des neuen deutschen Asylrechts auf das Nachbarland ging.

Im Fall Belarus sollte die EU den Polen jetzt zeigen, dass es ihr jetzt mit der Solidarität in der Flüchtlingspolitik ernst ist: Die EU sollte Polen bitten, die Flüchtlinge aus Belarus zu registrieren und kurzzeitig zu betreuen - und als Gegenleistung diese Flüchtlinge dann nach Kontingenten in Europa verteilen, zur weiteren Prüfung. Womöglich ist ein Polen, das jetzt am eigenen Leibe spürt, dass Flüchtlingsfragen nicht nur Südeuropa, sondern auch Osteuropa unmittelbar betreffen, empfänglich für ein neues solidarisches Denken. Womöglich bringt eine solche Geste Bewegung in die hochangespannten Beziehungen zwischen der EU und Polen. Es wäre ein Segen für Europa.

Handeln wir, wie wir behandelt sein wollten: Es ist dies eine Maxime, die Recht schafft. Handeln wir, wie wir behandelt sein wollten, wenn wir Flüchtlinge wären: Als moralischer Imperativ allein trägt nämlich der Satz nicht. Denn die Vorstellung, selber so ein elender schutzbedürftiger Mensch zu sein, kann geradezu die Unmoral anstacheln, diese Vorstellung kann den Impuls verstärken, die Fremden abzuwehren, weil man den Anblick der Hilflosigkeit nicht erträgt. Es ist jedoch gerade das Recht, das verhindern soll, dass man selbst schutz- und hilflos wird. Das zu erklären, ist Aufklärung. Und diese Aufklärung ist nie zu Ende. Sie ist immer und immer wieder notwendig, weil das Recht nicht einfach da ist und dableibt, sondern immer wieder erkannt und verteidigt werden muss.

Zivilgesellschaft contra Unzivilgesellschaft

Die Gesellschaft in Deutschland ist – wie die in ganz Europa – hin- und hergerissen zwischen aufgeklärter Hilfsbereitschaft einerseits und Ratlosigkeit, Abwehr und Hetze andererseits. Viele sagen Ja zu den Flüchtlingen, darauf folgt, in verschiedener Größe, ein Aber; die Größe des Aber hängt auch und vor allem davon ab, wie die Politik agiert. Sie agiert nicht mit entschlossener Humanität, sie agiert mit Ausreden; wenn es um Hilfe geht, wartet jeder europäische Staat, bis der andere anfängt. Es gibt eine immer giftigere flüchtlingsfeindliche Szene, die nicht nur „Aber“ sagt, sondern zu deren Kommunikationsmitteln Unverschämtheiten, Morddrohungen und Brandsätze gehören. Man darf sich nicht einschüchtern lassen von denen, die Gift und Galle spritzen und Brandsätze werfen, von denen, die nicht die Zivilgesellschaft, sondern die Unzivilgesellschaft repräsentieren.

Zivilgesellschaft contra Unzivilgesellschaft: Es gibt Zigtausende von Menschen in Deutschland, die den Flüchtlingen helfen beim Deutschlernen, beim Umgang mit den Behörden, beim Fußfassen in diesem Land. Es gibt die „Seebrücke“, ein Netzwerk, das sehr erfolgreich dafür wirbt, dass Kommunen sich zum „Sicheren Hafen“ erklären, auch wenn sie gar nicht am Wasser gelegen sind. Sie bringen ihre Stadträte dazu ihre Bereitschaft zu erklären: Schickt uns ein paar dieser Menschen, wir haben Platz, wir nehmen sie auf, auch wenn wir dann über unser gesetzmäßiges Kontingent gehen. Je mehr sichere Häfen es gibt, desto schwieriger wird es in Berlin, Nein zur Aufnahme zu sagen. Von ihnen soll sich die Politik beeindrucken lassen. Sie handeln nach der Regel: Handeln wir, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären.

Viele EU-Regierungen träumen von einer Festung Europa – ohne daran zu denken, dass eine Festung ohne geöffnete Zugbrücken verfällt und verrottet. Wohlstand und Werte sollen, so die EU-Festungsfreunde, drinnen, die Not soll draußen bleiben. Die Festungsfreunde verkennen, dass es Werte nicht einfach gibt, sondern dass Werte nur dann etwas wert sind, wenn sie in der Not eingelöst werden. Es geht um das Ende der Globalisierung der Gleichgültigkeit. Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten. Es wäre dies, es ist dies ein gutes europäisches Motto.

Archivbild aus dem Flüchtlingslager Moria
Prof. Dr. Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, bei seinem Vortrag im Rahmen der Hohenheimer Tage