| Christina Reich | Teilhabe und Soziales
Tage der Medienpädagogik

Influencer – Sinnfluencer

Influencer haben "Einfluss im Überfluss" – so der Titel der Tagung. Wie Internetwerbung wirkt und Influencer auf die Meinungsbildung ihrer jungen Follower Einfluss nehmen, wurde diskutiert.

Wegen der ersten Welle der Corona-Pandemie mussten im vergangenen März die 43. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik kurzfristig abgesagt werden; wegen der dritten Welle der Pandemie fanden sie nun erstmals online statt – mit dem erfreulichen Nebeneffekt, dass mehr als doppelt so viel Teilnehmende verzeichnet wurden, wie Christina Reich, die Fachbereichsleiterin Gesellschafts- und Sozialpolitik I an der Akademie, in ihrer Begrüßung im Namen der sieben Kooperationspartner berichtete. Etwas wehmütig sei man schon, sagte Reich, dass die traditionelle Veranstaltung nicht wie gewohnt ganz realiter nach dem Akademie-Motto "Dialog und Gastfreundschaft" in Hohenheim habe stattfinden können. Ein Online-Yoga und Rezeptideen trugen jedoch zu einer virtuellen Gastfreundschaft bei und der Dialog konnte im Chat und in Pausenräumen auch auf BigBlueButton rege geführt werden. Das ursprüngliche Thema Influencer wurde freilich beibehalten; es hat nichts an Aktualität eingebüßt – im Gegenteil. Der mehrfache Lockdown ermöglichte Kindern und Jugendlichen mehr Zeit online zu verbringen.

Empfehlungsmarketing in neuem Umfeld

In ihrem Eröffnungsvortrag im von Josef Karcher vom SWR moderierten Plenum führte Julia Kost in das Thema Influencer-Marketing ein. Kost ist Journalistin, Buchautorin, Dozentin an der Hochschule für Medien in Stuttgart und Beraterin für digitales Marketing. Eine Online-Umfrage unter den Zuhörenden bestätigte Studienergebnisse, dass sich an die 80 Prozent bei Kaufentscheidungen vor allem auf Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis verlassen. Genau an diesem Punkt setzen Influencer an. Empfehlungsmarketing sei eigentlich ein alter Hut, sagte Kost, aber die Rahmenbedingungen hätten sich durch das Internet verändert. Die Bedeutung von Peergroup und Experten steigen; das Internet sei vor allem bei 14- bis 29-Jährigen wichtig, die Mund-zu-Mund-Propaganda verlagere sich ins social web und basiere auf Empfehlungen, die negativ, neutral oder positiv sein könnten. Das Empfehlungsphänomen sei irrational und emotional. Begeisterung durch Nachahmung als subtilste Form, schwer greifbar aber sehr wirkungsvoll, denn "wir orientieren uns an Menschen, die Glück und Expertenwissen und soziale Autorität ausstrahlen."

Das Internet sei anfangs ein werbefreier Raum gewesen, bis 1995 ein Marketingunternehmen erste Werbebanner produziert habe, um Unternehmen davon zu überzeugen, dass es geht. Damals gab es auch schon Blogger, danach kam die Monetisierung. Inzwischen sei Influencer ein Berufsbild, viele Menschen lebten gut davon. Denn sie haben Zugang zu viel größerem Publikum als früher, es gebe eine große Dynamik. Es gebe bei Influencern große Unterschiede, man dürfe sie deshalb nicht alle über einen Kamm scheren, sagte Kost: Themenblogger arbeiten an der Schnittstelle zum Journalismus, legen einen Schwerpunkt auf unbezahlte Kooperation, haben häufiger Nischenthemen, andere empfehlen Produkte. Als Beispiele dafür nannte die Referentin Thomas Panke einen Spielwarenhändler, der sich mit Lego- und anderen Bausteinen befasse und Neuerungen dieser Branche kritisch bewerte und damit ein Millionenpublikum erreicht und Pamela Reif, eine 24-Jährige mit 7,5 Millionen Abonnenten, die Produkte der Sport und Fitnessbranche bewirbt und Unternehmerin für Influencer Marketing sei.

Nicht alle Influencer über einen Kamm scheren

Dabei gibt es verschiedene Kooperationsformen: Es gibt Markenbotschafter, Aktionen und Events, Automatisiertes Marketing (etwa mit Rabatt-Codes) bis hin zur Produktinszenierung. So unterschiedlich wie die Influencer ist auch die Vergütung: Sie reicht von es fließt kein Geld über Tauschgeschäfte und die kostenlose Überlassung von Produkten bis hin zu unterschiedlichen Honorarformen nach Klicks und Reichweite. Ein Problem dabei ist, dass es bisher nur eine sehr undurchsichtige Gesetzeslage gibt. Ein weiteres Problem sind Fakes, die von falschen Nachrichten über Fake-User bis Fake-Reichweiten reichen.

Der Einfluss der Influencer auf die Lebenswelt der Jugendlichen ist deshalb so groß, weil die jungen Leute neue Kanäle als erste ausprobieren, sagte Kost. Sie suchen dort nach Vorbildern zur Identifikation und sozialer Kommunikation. Deshalb solle man sie nicht ignorieren oder belächeln, sondern sie ernst nehmen und Regeln mitgestalten. Auf der anderen Seite müssten Influencer auch Verantwortung übernehmen und "Sinnfluencer" sein.

Junge Menschen besser verstehen lernen

Markus Gerstmann vom ServiceBureau Jugendinformation in Bremen hielt in seinem Vortrag ein Plädoyer, junge Menschen besser zu verstehen und sie als Expertinnen und Experten im Umgang mit Youtube, Tiktok, Instagram und Co ernst zu nehmen. Jugendliche setzen sich heute durch soziale Medien in Kontakt mit der Welt. In der Medienunterhaltung und Popkultur gehe es darum, auf spielerische Weise Erkenntnisse über die Welt und sich selbst zu bekommen. Eine Person brauche ein Gegenüber, um sich selbst zu erkennen und zu positionieren. Ein "Like" müsse in diesem Zusammenhang entschlüsselt werden. Früher habe man dafür Briefe geschrieben, heute fotografiere man. Mit den Fotos wolle man gesehen werden und sein Leben erzählen. "Man will einen eigenen Lebensentwurf bekommen und geht deshalb in Dialog mit den Bildern" sagte Gerstmann. Jugendliche benutzten das Smartphone, um zu reden, sich austauschen, Freundschaften zu pflegen. Die Peergroup sei dafür wichtig, "das Foto ist für die Clique, nicht für Lehrer und Erwachsene." Diese Bilder ersetzten das Fernsehen; weil man die Bilder selber macht, erzeuge dies eine Selbstwirksamkeit, die befriedigt. Pädagogen müssten das Gesehene decodieren und als Gesprächspartner für die jungen Menschen zur Verfügung stehen, sie unterstützen auf ihrer Suche nach ihrem Platz und Teilhabe in der modernen Gesellschaft. Die pädagogischen Kernkompetenzen Verstehen, Vermitteln und Reflektieren seien dabei der Schlüssel, mit Jugendlichen auch einen kritischen Blick einzuüben. Gleichzeitig empfiehlt Gerstmann eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. "Wir wissen nicht, was als nächstes passiert, aber wir können etwas ruhiger und gelassener werden im Hinblick auf neue Formate." Kritisch bewertete der Medienpädagoge, dass es bei den Bildern immer auch um ein schönes Leben gehe: Schönheit, Einrichtung, Rollenklischees spielten eine große Rolle. Welche Bilder und Erwartungen damit erzeugt würden – darüber müsse man mit den Jugendlichen sprechen. Eine junge Frau auf Instagram hat demnach drei Lebensziele: Das perfekte Mahl, das perfekte Heim und das perfekte Erscheinungsbild – "In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?", fragte Gerstmann. Auch dass "Traditionsfrauen" das Weltbild von rechten Männern seien, müsse man besprechen.

Nicht Perfektion, sondern Authentizität ist gefragt

"Warum wir alle ein bisschen Influencer sein müssen" schilderte Clare Devlin sehr plastisch im dritten Vortrag. Die 29-jährige freie Journalistin und inzwischen auch Unternehmerin aus Köln hat auf Instagram das online-Format Mädelsabende entwickelt und hat dafür 2019 den Grimme Online-Award erhalten. Die Instagram-Mädelsabende sind on air seit 2018. Gestartet mit einer vier Frauen-Redaktion wollte man eine junge Zielgruppe über diese neue Plattform erreichen, weil es über klassisches TV nicht mehr gelingt. Jede Woche gibt es ein Thema, das das Team  bearbeitet und damit inzwischen 185 000 Follower anzieht,  96 Prozent davon weiblich. Kernzielgruppe sind Menschen bis 29 Jahre.

Die Idee: Es gab damals zwar viele Influencer, aber keine, die sich für gesellschaftspolitische Themen stark gemacht haben. Bei Mädelsabende wurde fortan aber auch über Genitalverstümmelung, Hass im Netz, sexualisierte Gewalt, Tod und Trauer, Depressionen oder Essstörungen gesprochen. „Wir nutzen klassische Influencer-Mechanismen, um Geschichten zu erzählen.“ berichtete Devlin. Gearbeitet wird mit Selfies, ohne Maske, Toningenieur und Kamerateam. Man schaffe Nahbarkeit dadurch, dass man wie jeder, wie jede andere ist. Die Mädelsabende werden immer zuhause aufgezeichnet. Es ist alles durchgescripted, soll aber nicht so wirken. "Wir sprechen die Leute genauso an, wie wir  Menschen zwischen 20 und 30 ansprechen würden, wir senden auf Augenhöhe", in die viel Energie gesteckt werde. Dazu zählt auch der Aufbau der Community. Diese binde man stark ein, es gibt Austausch und Aktionen. Auch hier werden also Elemente von Influencern übernommen. Devlin sieht sich dabei weiterhin in erster Linie als Journalistin, die auch Zweifel transparent macht, die bei Storys auftauchen. "Wir wollen Wissen vermitteln, werden aber mit Sicherheit auch Menschen beeinflussen, denn wir schaffen große Communities und haben Einfluss auf Follower, auch ohne etwas zu verkaufen, wir sind mehr Sinnfluencer als Influencer."

Der Nachmittag stand – wie man es von den Stuttgarter Tagen der Medienpädagogik gewohnt ist – ganz im Zeichen medienpädagogischer Ansätze und Angebote, die aufzeigen, wie ein reflektierter Umgang und Zugang zum Thema Influencer gewonnen werden kann. In insgesamt neun Foren hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich auszutauschen und zu diskutieren. Dank spontaner Umfragen, Breakout-Räumen und geteilte Notizen war dies auch online bestens möglich und wurde reichlich genutzt.
(Barbara Thurner-Fromm)

 

Clare Devlin hat für den WDR mit journalistischen Themen erfolgreich "Mädelsabende" auf einem eigenen Instagram-Kanal entwickelt.
Julia Kost hat die Mechanismen der Empfehlungswerbung im Internet aufgezeigt.
SWR-Redakteur Josef Karcher (links) führte durch den Vormittag mit Vorträgen. Markus Gerstmann erläuterte, welche Rolle soziale Medien für Jugendliche spielen.