| Interreligiöser Dialog
Integration als beidseitiger Prozess

Junge Muslim:innen in Kommunen

Immer mehr Gruppen junger Muslim:innen gibt es, die die Gesellschaft positiv mitgestalten wollen. Ihre Einbindung in kommunale Prozesse ist entscheidend für mehr Teilhabe – und wirft viele Fragen auf.

Von Linda Huber

„Wir wollen, dass man uns auf Augenhöhe begegnet. Integration ist ein beidseitiger Prozess“, fordert Gül Meryem Caliskan, Mitglied des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart. Deutschland sei ihre Heimat, doch wie viele andere Muslim:innen ihrer Generation sitze sie manchmal zwischen zwei Stühlen: Angesichts von Diskriminierungserfahrungen sei es nicht immer leicht, sich wie ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu fühlen. Manchmal sei es für sie unkomplizierter, auf dem Betriebsfest zu sagen, sie sei Vegetarierin, als dass sie aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch esse. Es brauche mehr Sensibilität und interkulturelle Kompetenz von allen Seiten. Gemeinsam mit anderen jungen Menschen möchte sie Wissen über die Vielfalt des Islams weitertragen, Brücken bauen und Gesellschaft mitgestalten. Caliskan engagiert sich deshalb im „Netzwerk junger Muslim:innen in Stuttgart“, das unabhängig von religiösen Prägungen oder kulturellen Hintergründen agiert. Denn, so betont Caliskan, auch innerislamisch sei es dringend nötig, sich an einen Tisch zu setzen und Probleme gemeinsam anzupacken.

Muslimische Jugendarbeit öffnet sich immer stärker nach außen. Das Stuttgarter Netzwerk stand nun bei der gemeinsam mit der Landeshauptstadt veranstalteten Tagung „Junge Muslim:innen in kommunalen Kontexten“ am 10. Juli 2023 als ein Beispiel im Fokus. Diskutiert wurden die Potentiale, aber auch die Herausforderungen jungen muslimischen Engagements. Rund 40% der etwa 5,6 Millionen Muslim:innen in Deutschland sind noch unter 25 Jahre – und deshalb für Kommunen wichtige Partner:innen. Dr. Hussein Hamdan verantwortet seit 2015 als Islamberater das Projekt „Muslime als Partner in Baden-Württemberg“ und weiß deshalb besonders gut, dass gelingendes Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft auf kommunaler Ebene gestaltet wird. Er kennt aber auch die Herausforderungen, mit denen die muslimische Verbandsarbeit konfrontiert ist. Da seien einerseits Unsicherheiten kommunaler und zivilgesellschaftlicher Akteur:innen angesichts der sich immer stärker ausdifferenzierenden islamischen Verbandslandschaft. „In gewissen Themen sind wir stehengeblieben. Viele Fragen, die ich vor zehn Jahren beantworten musste, werden mir heute noch gestellt“, konstatiert er. Die Besorgnis, mit Stereotypen und Vorbehalten konfrontiert zu werden, mache es schwer, proaktiv auf Kommunen, Bildungsträger oder die Stadt- oder Kreisjugendringe zuzugehen, erzählten Teilnehmer:innen. Doch gerade von den Unterstützungsangeboten und Netzwerken der Stadtjugendringe könnten muslimische Jugendgruppen und Initiativen profitieren, wie ein Podiumsgespräch mit Vertreter:innen der Stadtjugendringe Mannheim, Freiburg und Stuttgart aufzeigte. Denn häufig fehle es in der islamischen Jugendarbeit an nachhaltigen und professionalisierten Strukturen sowie an Qualifizierungsangeboten.

Davon wussten im Interview mit Linda Huber auch Caliskans Mitstreiter:innen Beyza Palaz und Heider Younas zu berichten, die gemeinsam ab 2016 mit anderen jungen Menschen die Initiative ergriffen haben, eine Plattform für engagierte junge Muslim:innen in Stuttgart zu etablieren. Die Unterstützung durch die Landeshauptstadt Stuttgart sowie die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart sei für die Bildung des Netzwerks ein entscheidender Faktor gewesen. In Beratungsgesprächen sowie zwei gemeinsam verantworteten Qualifizierungstagungen wurden den Mitgliedern des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart 2021 und 2022 die erforderlichen Kompetenzen vermittelt, um sich in Öffentlichkeits- und Gremienarbeit, Finanzmittelakquise sowie im Umgang mit Alltagsdiskriminierung noch stärker aufzustellen. „Die Tagungen waren ein Safe Space, bei dem wir viel von den Referent:innen, aber auch voneinander lernen konnten“, erzählte Beyza Palaz, Mitglied des Stuttgarter Netzwerks. Sie sei überrascht gewesen, wie viele junge Muslim:innen in der Stadt die gleichen Visionen gehabt hätten. Der Austausch habe es unter anderem ermöglicht, dass 2023 ein gemeinsames Iftar stattfinden konnte.

Um den Qualifizierungsbedarf zu decken sowie Kontakte zu weiteren gesellschaftlichen und politischen Akteur:innen zu knüpfen, braucht es demnach häufig Beratung und Unterstützung. Informationsdefizite bezüglich der Angebots- und Förderlandschaft könnten vor allem dann abgebaut werden, wenn neue Zugänge geschaffen werden. Deshalb sei es wichtig, dass mehr Menschen aus den Communitys in den Bildungseinrichtungen und Kommunen tätig würden und als Multiplikator:innen agierten, bekräftigte Gari Pavkovic, Leiter der Abteilung Integrationspolitik der Landeshauptstadt Stuttgart. „Meine Erwartung an junge Muslim:innen ist eine stärkere politische Teilhabe, damit man nicht über, sondern mit den Muslim:innen spricht“, forderte er und betonte, verbandsunabhängige, deutschsprachige Initiativen seien ein entscheidender Schritt zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe.

Dass es mehr Vorbilder in Politik, Medien und Gesellschaft brauche, darin waren sich auch die Islamwissenschaftlerinnen Simone Helmschrott, Fachreferentin für religionspolitische Fragen im Staatsministerium Baden-Württemberg, sowie Derya Şahan, Fachreferentin in der Fachstelle Extremismusdistanzierung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg und SWR-Rundfunkrätin, einig. Demokratie brauche Mitgestaltung, sagte Helmschrott. Noch immer sei das Bild, das politische Entscheidungsträger:innen und andere Akteur:innen von Muslim:innen und ihren Bedarfen habe, durch negativ konnotierte mediale Darstellungen geprägt. Häufig stünden sie symbolisch für eine Rückständigkeit des Islams, das vielfältige Engagement bleibe unsichtbar. Dabei werde in den Bereichen Integration, Antidiskriminierung und Partizipation sowie für den interreligiösen und innermuslimischen Dialog bedeutsame Arbeit geleistet. So haben muslimische Initiativen beispielsweise politische Bildung, Empowerment-Workshops oder Freizeitaktivitäten auf dem Programm. Andere Beispiele (jugend-)muslimischen Engagements sind etwa der Sozialdienst Muslimischer Frauen, der Verein Coexist für interkulturelle Verständigung oder die Bildungsinitiative FödeM.

Gute muslimische Jugendarbeit habe auch einen präventiven Effekt, bekräftigte Derya Şahan. Deshalb sei es besonders wichtig, dass jungen Menschen eine Stimme gegeben werde. Im Gegensatz zur sogenannten Gastarbeitergeneration müssten sie in allen gesellschaftlichen Bereichen präsenter werden. „Jetzt kommen ja wir, um etwas zu verändern“, sagte Gül Meryem Caliskan mit einem Augenzwinkern und optimistischem Blick in die Zukunft.

Mitglieder des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart mit Gari Pavkovic (Integrationsbeauftragter LHS Stuttgart), Referentin Derya Şahan (fex) sowie den Tagungsleitenden Fatma Gül (LHS Stuttgart), Dr. Hussein Hamdan und Linda Huber (Akademie)
Mitglieder des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart mit der Tagungsleitung
Beyza Palaz (Netzwerk junger Muslim:innen in Stuttgart) mit Dr. Hussein Hamdan (Akademie)
Mitglieder des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart beim Essen
Linda Huber (Akademie)
Podiumsgespräch mit Dr. Hussein Hamdan (Akademie), Fatma Gül (LHS Stuttgart), Beyza Palaz und Heider Younas (Netzwerk junger Muslim:innen in Stuttgart), moderiert von Linda Huber
Gül Meryem Caliskan, Mitglied des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart
Beyza Palaz, Mitglied des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart
Dr. Hussein Hamdan
Mitglieder des Netzwerks junger Muslim:innen in Stuttgart im Gespräch
Podiumsgespräch mit Simone Helmschrott (Staatsministerium) Derya Sahan (fex) und Gül Meryem Caliskan (Netzwerk junger Muslim:innen in Stuttgart), moderiert von Hussein Hamdan