| Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht
Hohenheimer Tage für Migrationsrecht

Macht’s doch wie bei den Ukrainern!

Die Zuwanderungsbehörden sind unterbesetzt, die Rechtslage ist überkompliziert, der Fremdenhass nimmt zu: rund 300 Migrationsexpertinnen und -experten suchen Wege aus der Misere.

Von Dr. Axel Veiel

„Migration könnte so einfach sein.“ Jörg Bogumil sagt das. Schon das Äußere des Mannes signalisiert. Er mag es unkompliziert. In Bluejeans und T-Shirt ist der Verwaltungswissenschaftler der Universität Bochum zu den Hohenheimer Tagen für Migrationsrecht. Den Konjunktiv „könnte“ hat er mit Bedacht gewählt. Migration ist ganz und gar nicht einfach und wird es so schnell auch nicht werden, im Gegenteil: Noch mehr Komplexität ist zu erwarten.

Vor Bogumil liegt die neueste Auflage des Handbuchs zum Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht: 1358 hauchdünne, in kleinster Schrift bedruckte Seiten. So viele waren es noch nie. Allein das Aufenthaltsgesetz sei seit 2015 mehr als fünfzigmal geändert worden, erzählt der Verwaltungswissenschaftler. Das Paragrafendickicht, das die für Deutschlands überalterte, von Arbeitskräftemangel gezeichnete Gesellschaft so wichtige Zuwanderung regele, sei wirrer denn je.

Bogumil will es lichten. Und nicht nur er. Rund 300 Migrationsexpertinnen und -experten drängen sich in den Konferenzsälen der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Alle Bereiche, die mit Einwanderung zu tun haben, sind vertreten: Hochschulen, Hilfsorganisationen, Ausländerbehörden, Richter- und Anwaltschaft, Länder und Kommunen. Das vielleicht zentralste Anliegen der Zusammenkunft: Wege weisen zu einer gedeihlichen Zuwanderung sowohl für Geflüchtete als auch für die aufnehmende Gesellschaft.

Wie Migration einfacher ginge? Bogumil muss nicht lange überlegen. „Wir haben weitgehend reibungslos eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen und ereifern uns über 350.000 Geflüchtete anderer Herkunft, die 2023 einen Asylantrag gestellt haben. Hilfreich wäre schon, wenn man Asylsuchende nicht länger ins komplexe Asylbewerberleistungsgesetz abdrängen, ihnen wie den Ukrainerinnen und Ukrainern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch zugestehen würde. Deutschlands hoffnungslos überlasteten Ausländerbehörden würde das Luft verschaffen.“ Aber CDU und FDP machten da nicht mit. Sie wollten Asylbewerber demonstrativ schlechter behandeln als Geflüchtete aus der Ukraine.

Vier Sachbearbeiter für tausend Anträge

Vereinfachung ist nicht, klare Entscheidungsraster sind Mangelware. Und das hat Folgen. Für die Ausländerbehörden zunächst. Jan Beneduczuk vom rheinland-pfälzischen Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration gibt Einblick ins behördliche Innenleben der Stadt Worms. Vier Sachbearbeiter brüten dort zurzeit über tausend Anträgen. „Es fühlt sich an, wie wenn auf dem Tennisplatz die Ballmaschine falsch eingestellt ist, zu schnell zu viele Filzkugeln auswirft“, hat Victoria Rietig beobachtet, Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Hinzu kommt der wachsende Druck von rechts. „Lasst sie nicht rein“, schallt es hinauf zu Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern. Ingo Dietz, der in Hannover die Migrationsbehörde leitet, erzählt von einer Mitarbeiterin, der vor zwei Wochen an der U-Bahnhaltestelle aufgelauert worden sei. Im Schnitt gebe es einen bedrohlichen Vorfall pro Monat.

Neue Arbeitskräfte zu gewinnen ist schwer. Wer setzt sich schon freiwillig Dauerstress aus, lässt sich gern beschimpfen von frustrierten Antragstellern wie von aufgebrachten AfD-Sympathisanten und -Sympathisantinnen?

Eine Arbeitserlaubnis ist Glückssache

Leidtragende sind vor allem aber auch die Geflüchteten, die nicht wissen, wann über sie entschieden wird, wie die Entscheidung letztlich ausfällt, ob sie irgendwann angstfrei in Deutschland leben können. Rechtssicherheit sieht anders aus.

„Ob jemand eine Arbeitserlaubnis erhält oder nicht, das ist Glückssache. Es hängt maßgeblich davon ob, wer mit dem Fall befasst ist.“ Hildegard Schneider sagt das, Europarechtsprofessorin an der Universität Maastricht. Die Vorschriften zum Thema füllten mehr als 300 schwer durchdringliche Seiten. Schneider erzählt von einer Geflüchteten, deren Antrag auf Arbeitserlaubnis abgelehnt worden sei. Beim Verlassen der Behörde sei die Frau im Fahrstuhl einem netten Sachbearbeiter begegnet. Der Mann habe sie hinauf gebeten ins Büro – und dem Antrag stattgegeben.

In Herbertshausen sind Asylsuchende zwar nicht an einen wohlwollenden Fahrstuhlnutzer geraten, wohl aber an den wohlwollenden Bürgermeister Richard Reischl. In der zum Landkreis Dachau zählenden Gemeinde hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Geflüchtete den ohnedies großen Wohlstand des Dorfes weiter mehren. Sie stellen 3,7 Prozent der 6000 Einwohnerinnen und Einwohner; 80 Prozent sind in Arbeit oder besuchen Integrationskurse. Reischl erzählt von der florierenden Bäckerei Polz, die 90 Mitarbeiter aus 19 Nationen beschäftige. Einen davon habe die Bäckerei allerdings kürzlich verloren. Die Polizei habe ihn nachts geholt und in Abschiebehaft genommen.

„Ich dringe mit Fakten einfach nicht mehr durch.“

Während sich das Paragrafendickicht lichten ließe, wenn man es ernsthaft in Angriff nähme, ist gegen Fremdenfeindlichkeit schwerer anzugehen. Aber auch sie lässt sich eindämmen. Der Schweizer Migrationsforscher Stefan Schlegel zeigt sich davon überzeugt. Er empfiehlt, den politischen Gegner aufzuwerten, ihm zuzugestehen, dass auch er sich von Werten leiten lasse wie Gerechtigkeit oder Abwendung von Leid, dass er nur eben zu ganz anderen Ergebnissen gelange. Etwa dem Ergebnis, als Deutscher das Opfer gesellschaftlicher Ungerechtigkeit zu sein, unter bedrohlich wachsender Kriminalität zu leiden. „Wir müssen erst einmal an rechtskonservative Geschmacksrezeptoren andocken, nur so finden wir Gehör“, sagt Schlegel: „Nur so können wir das mittlere Drittel der Gesellschaft dauerhaft zurückgewinnen, das nach rechts abzudriften droht.“

Schlegels Empfehlung löst im Publikum nicht eben Begeisterung aus. Eine kurze Umfrage ergibt: Nur vereinzelte Teilnehmende der Tagung standen in letzter Zeit im Gespräch mit AfD-Sympathisanten und -Sympathisantinnen. Wenn es sich dann doch ergibt, fährt man Sachargumente auf. Thüringens Integrationsbeauftragte Mirjam Kruppa etwa pflegt dann daran zu erinnern, dass in dem kleinen Bundesland bis 2040 ein Bevölkerungsrückgang um elf Prozent zu erwarten ist, bis 2035 rund 250.000 Arbeitskräfte fehlen werden, Thüringen dringend Zuwanderung braucht. Im Gespräch mit dem Schweizer Forscher räumt Kruppa allerdings auch ein: „Ich dringe mit Fakten einfach nicht mehr durch.“

Mirjam Kruppa, Beauftragte für Integration, Migration und Flüchtlinge, Thüringen und Moderator Dr. Stephan Beichel-Benedetti, Mannheim
Stefan Schlegel, Direktor der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution (SMRI), Fribourg, und Victoria Rietig, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin
Dr. Konstanze Jüngling (Akademie) bei der Eröffnung der Hohenheimer Tage
Prof. Dr. Jörg Bogumil, Universität Bochum, bei seinem Eröffnungsvortrag.
Abendessen - bei Mai-Temperaturen im Garten
Podium von links: Moderatorin Maria Kalin; Christine Lüth, Rechtsanwältin, Berlin; Mahmut Kaçan, Rechtsanwalt, Türkei; Dolmetscher Luca Scheid; am Bildschirm: Meşale Tolu, Journalistin, Ulm.
..und Tagesausklang mit Musik
Vera Sompon, Sompon Socialservices Baden-Württemberg e.V.
Vera Sompon, Sompon Socialservices Baden-Württemberg e.V.
Vortragssaal
Moderator Dr. Constantin Hruschka, Tineke Strik, MdEP Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz, Brüssel (online); Wiebke Judith, Pro Asyl e.V., Berlin