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Migration im Kreuzfeuer

Menschen ohne Rechte?

Weltweit werden die Rechte von Geflüchteten beschnitten. Kardinal Álvaro Ramazzini aus Guatemala verlangt, dabei nicht nur auf Ziel-, sondern auch auf Fluchtländer zu schauen.

Von Paul Kreiner

Mehr als hundert Millionen Menschen, so viele wie noch nie, sind derzeit weltweit auf der Flucht. Ebenso weltweit werden Schutzstandards für sie ausgehöhlt, Rechte beschnitten, Mauern gebaut. „Oft werden Hunde besser behandelt als Menschen“, sagt der guatemaltekische Kardinal Álvaro Ramazzini. Derzeit ist er als Partner für die Weihnachtsaktion des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat in Deutschland; in dieser Eigenschaft war er auch Gast bei der Abendveranstaltung „Menschen (ohne) Rechte“ in Stuttgart-Hohenheim, die von Akademie und Adveniat gemeinsam getragen wurde.

Ramazzini sieht in der Betrachtung und der Behandlung von Geflüchteten eine „Krise des Humanismus“, geradezu einen „Krieg“ gegen Migranten, und warnt: „Wir dürfen die Menschlichkeit nicht verlieren.“ Er verlangt aber auch, dabei Flucht- und Zielländer gleichermaßen in den Blick zu nehmen. In Lateinamerika, gerade auch in Guatemala, sei es „die Armut, die Menschen aus dem Land treibt“; aus Venezuela seien acht Millionen Menschen einfach deshalb geflohen, „weil sie überleben wollen.“ Da hätten die jeweiligen Regierungen „einige Aufgaben zu erledigen“, sagt Ramazzini: „Aber haben die Bürger dort kein Recht, ihr Land zu verlassen? Und nicht wie alle anderen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben?“ Was kann ich dafür, dass diese Menschen arm sind, werde in Europa und den USA häufig gefragt, sagt Ramazzini und merkt dazu an: „Wer so fragt, hat den Sinn für Menschlichkeit verloren.“

„Tun wir uns selber etwas Gutes?"

„Mit großer, großer Sorge“ betrachte der Deutsche Caritasverband die deutsche Debatte um die Geflüchteten, sagt Andrea Schlenker, die bei der Caritas das Referat Migration und Integration leitet. Kriminalisierung Schutzsuchender, Kriminalisierung von Seenotrettern, der Abwehrgedanke als das oberste Ziel von Gesetzesverschärfungen: „Aber worin besteht die Attraktivität Europas? Doch gerade in der Rechtsstaatlichkeit. Tun wir uns also selber etwas Gutes? Wohlstaat und Rechtsstaatlichkeit sind innerlich verbunden.“ Die Debatte, so Schlenker weiter, drehe sich um „Scheinlösungen“ und lenke von den eigentlichen Problemen ab. So mangele es für die Integration beispielsweise an Schul- und Kitaplätzen, und was den Personalbedarf auf dem Arbeitsmarkt angehe, „so stehen wir erst am Anfang einer demographischen Krise.“

Schlenker sagt, die Caritas versuche, die Debatte zu versachlichen und zu mäßigen. Sie verlangt „pragmatische Lösungen“ vor Ort – und sieht diese auch, wo andere sie nicht sehen: „Solche Gemeinden treten halt immer leiser auf als die anderen.“ Gegen die von rechten Politiker:innen geschürten Ängste müsse man aber auch „positive Erzählungen“ setzen, verlangt Schlenker und zitiert die jüngste Studie, derzufolge sich lediglich sechs Prozent der deutschen Kommunen als vom aktuellen Zustrom derart „überfordert“ sehen, dass sie Geflüchtete in Turnhallen unterbringen müssten: „Aber mit welchen Bildern verbreiten die Medien eine solche Meldung? Doch wieder nur mit Menschen in vollen Turnhallen!“

Andrea Schlenker hebt hervor, Deutschland habe in den letzten beiden Jahren eine Million Ukrainer:innen aufgenommen, „so geräuschlos wie keine anderen Geflüchteten“. Daraus, so schließt sie, könne man doch lernen. „Aber dann haben wir wieder drei Purzelbäume rückwärts gemacht.“ Ruben Neugebauer, Mitgründer der Seenotrettungs-Organisation Seawatch, der in Hohenheim über Video zugeschaltet war, sieht die Gründe für die vergleichsweise unkomplizierte Aufnahme ukrainischer Geflüchter darin, dass man ihnen von Anfang an alle Bewegungsfreiheit zugestanden hat. „Die konnten bei Verwandten unterkommen. Und während die anderen Geflüchteten zwangsweise in Aufnahmeeinrichtungen bleiben müssen, haben sich die Ukrainer übers ganze Land verteilt, Kommunen waren nicht durch die schiere Menge überlastet. Die Probleme sind also einfach versickert.“ Das hätte man, sagt Neugebauer, „schon 2015 machen können.“

„Ein deutlicher Verfall der Rechte"

Neugebauer sieht darüber hinaus einen deutlichen „Verfall der Rechte“ – nicht nur durch Gesetzesverschärfungen, sondern auch durch „Nichtbeachtung der Menschenrechte“, etwa wenn Geflüchtete an den EU-Außengrenzen zurückgeschickt oder Bootsflüchtlinge wieder aufs Meer geschleppt würden, wie etwa von griechischen Stellen. Auch hält er es für „unrealistisch“, Grenzen geschlossen zu halten: „Von der Chinesischen bis zur Berliner Mauer sind über kurz oder lang alle gefallen.“ Und schließlich – ähnlich wie es Andrea Schlenker mit ihrem Drängen auf „positive Erzählungen“ anstrebt – gibt es auch für Neugebauer große Beispiele, wo Migration gelingen könne: „Vor zwanzig Jahren, vor der EU-Osterweiterung, hieß es ja auch, Bulgaren und Rumänen würden uns überschwemmen und zu einem Problem für unsere Sozialsysteme werden. Das hat sich aber nicht bewahrheitet. Und wer hat am Ende meinen kranken Vater gepflegt?“

Klar war für alle drei Podiumsgäste aber auch, dass man Zuwanderung nicht nur unter der Frage der „Nützlichkeit“ betrachten dürfe und eine Unterscheidung nötig sei zwischen dem, was der deutsche Arbeitsmarkt brauche – und Menschen, die an Leib und Leben gefährdet seien.