| Interreligiöser Dialog
Islamberatung – letzte Jahrestagung

Engagement braucht Strukturen

Die letzte Jahrestagung der Islamberatung stellt muslimisches Engagement und seine Bedeutung für das Zusammenleben in der Kommune in den Mittelpunkt.

Von Tim Florian Siegmund

Über Engagement wird allerorten gesprochen, und niemand würde bestreiten, dass es entscheidend für das gesellschaftliche Zusammenleben, besonders vor Ort: in der Kommune. Dort bringen sich Menschen in Vereinen, Initiativen oder der Nachbarschaft ein und prägen so das Bild ihrer Gemeinde mit. Speziell das Engagement von Muslim:innen aber erfährt dabei vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Wie und wofür setzen sie sich in ihrer Kommune ein? Warum wird ihr Engagement so wenig wahrgenommen? Auf welche Hürden stoßen sie, wenn sie ihre Umgebung mitgestalten möchten?

Nachdem es zuletzt nicht selten um konfliktreiche Fragen des Zusammenlebens in der Kommune ging, sollte die letzte Jahrestagung des Projekts Islamberatung am 14. November 2023 bewusst einen anderen Akzent setzen. Sie sollte sich mit einem Thema befassen, das meist nicht im Fokus steht, zugleich aber sehr übergreifend ist: muslimisches Engagement in der Kommune. Hierzu diskutierten Vertreter:innen aus kommunalen Verwaltungen sowie muslimischen Verbänden und Initiativen vor einem Fachpublikum aus rund 60 Personen im Tagungszentrum Hohenheim und online. Organisiert wurde die vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg geförderte Tagung gemeinsam vom Akademie-Fachbereich „Muslime in Deutschland“ und der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl.

Deutsche Staatsangehörigkeit fördert das Engagement

Das Bild einer bunten Blumenwiese stellte Simone Trägner, Programmleiterin der Islamberatung in Bayern sowie Beraterin der Islamberatung Baden-Württemberg, an den Beginn ihres Vortrags. Sie widmete sich darin der nicht ganz einfachen Bestandsaufnahme muslimischen Engagements im kommunalen Leben. Dieses Engagement sei überaus heterogen und, wie auf einer Blumenwiese, auch von Wildwuchs bestimmt, sagte Trägner. In diesem Bild stecke aber auch: Muslim:innen sind engagiert, aber nicht immer wird ihr Engagement wahrgenommen. Entsprechend wenige Studien, so Trägner, gebe es zum Thema. Eine davon habe gezeigt, dass sich 61 % der jungen Muslim:innen engagierten, viele davon ehrenamtlich. Dabei, so eine weitere Studie, liege das freiwillige Engagement bei Muslim:innen ohne eigene Migrationsbiographie höher als bei solchen mit eigener Migrationserfahrung. Eine entscheidende Rolle spiele auch der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, der sich fördernd auf die Einsatzbereitschaft auswirke. Trägner zeichnete nach, wie sich das Engagement der in Deutschland lebenden Muslim:innen zunächst auf die religiöse Selbstorganisation der Moscheegemeinden konzentrierte, bevor es zu religiös breiter wurde und schließlich auch zivilgesellschaftliches Engagement umfasste.

Stefan Zinsmeister, Vorstandsvorsitzender der Eugen-Biser-Stiftung und Projektleiter der Islamberatung in Bayern, verdeutlichte das Gesamtbild anhand zahlreicher Beispiele über Baden-Württemberg hinaus, ging auf die Wahrnehmung muslimischen Engagements ein und verortete es in der deutschen Gesellschaft. Dabei benannte er drei besonders wichtige Bereiche: Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Soziale Dienste. Er betonte, dass Kommunen der entscheidende Ort seien, um muslimisches Engagement voranzubringen und zu einem gelingenden Zusammenleben beizutragen. Dies sollten vor allem die kommunalen Verantwortlichen nutzen und für die eigene Gemeinde eine Engagementstrategie entwickeln.

Nötig: qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit

Eine solche sollte auf die sowohl von Zinsmeister als auch Trägner hervorgehobenen Herausforderungen eingehen, auf die Muslim:innen treffen, wenn sie sich engagieren möchten. So fehle es auf muslimischer Seite oft an hauptamtlichen Strukturen und dauerhafter Finanzierung, um das ehrenamtliche Engagement nachhaltig zu stärken. Dies erschwere den Zugang zu Ressourcen und die professionelle Kommunikation nach außen. Andererseits sähen sich Muslim:innen gesellschaftlichen Vorbehalten und einer weit verbreiteten Muslimfeindlichkeit ausgesetzt. Angesichts all dessen sei es eine wichtige Aufgabe, engagierte Muslim:innen in der Kommune in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit zu qualifizieren und zu kommunalen Ansprechpartner:innen zu machen, um ihre Potenziale zu stärken und ihre Teilhabe vor Ort zu fördern.

Am Nachmittag diskutierten muslimische und kommunale Vertreter:innen konkrete Beispiele der Interaktion zwischen Muslim:innen und Kommunen auf einem von Prof. Dr. Andreas Pattar (Hochschule Kehl) moderierten Podium. Hierzu stellten Kamal Ahmad, Vorsitzender der Ahmadiyya Muslim Jamaat Stuttgart, und der Landesgeschäftsführer der Islamischen Religionsgemeinschaft DİTİB Baden-Württemberg, Fatih Şahan, ihr eigenes Engagement vor und beschrieben, wie und wofür sich Menschen in ihren Verbänden einbringen. Ahmad hob zum Beispiel Spendenläufe für das Kinderhospiz Stuttgart, Blutspendeaktionen oder das Aufräumen von Silvestermüll hervor, während Şahan über Spendensammlungen für Naturkatastrophen, Hilfe für Geflüchtete oder Einsatz während der Covid-19-Pandemie sprach.

Muslimisches Engagement gilt gesamtgesellschaftlichen Themen

Den Blick der Abteilung Integrationspolitik der Stadt Stuttgart darauf brachte Fatma Gül ein. Sie beobachtet eine Entwicklung des muslimischen Engagements weg von religiösen Dienstleistungen hin zu gesamtgesellschaftlichen Themen, worin sich auch der Wunsch nach mehr Mitbestimmung widerspiegele. Von der auch wegen der Nähe zur Schweiz besonderen Situation in Singen berichtete der dortige Integrationsbeauftragte Stefan Schlagowsky-Molkenthin. Angesichts der Bevölkerung in Singen und vielen anderen Städte müsse die Frage gestellt werden, wer überhaupt die Mehrheitsgesellschaft, und ob es nicht angemessener sei, viele der besprochenen Fragen eher unter dem Aspekt der Teilhabe und nicht der Integration zu diskutieren. Auch die Folgen des aktuellen Nahost-Kriegs kamen zur Sprache. In solchen Situationen, so die allgemeine Meinung, zeige sich, wie eng, vertrauensvoll und nachhaltig die Beziehungen unterschiedlicher Gruppen vor Ort seien.

Durch den gesamten Tag zog sich die Frage, wie es muslimischen Gruppen gelingen kann, Strukturen aufzubauen, um das Engagement von Muslim:innen nachhaltig aufzustellen und so mit anderen Gruppen auf Augenhöhe in Kontakt zu treten. Die Islamberatung beschäftigt sich damit bereits länger, und so stand dieses Thema auch auf der letzten Jahrestagung im Mittelpunkt des von Dr. Hussein Hamdan moderierten Podiums. Einen möglichen Weg präsentierte Gökay Sofuoğlu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg (tgbw). Diese habe sich stark darum bemüht, hauptamtliches Personal einzustellen, und bezahle dieses im Rahmen von Projekten. Mittlerweile seien 46 Mitarbeiter:innen in 26 einzelnen Projekten für die tgbw tätig. Auch der Sozialdienst muslimischer Frauen (SmF) mit seinen verschiedenen Standorten bemühe sich seit 2018 um den Aufbau hauptamtlicher Strukturen, berichtete Aysun Pekal, und habe dafür die konkreten Bedarfe vor Ort abgefragt. Sorge bereite ihr aber, dass viele der Projekte nicht langfristig gesichert seien, da der Weg in die Regelförderung schwierig sei.

Dieses Problem sah auch Michèl Ali Schnabel von der Muslimischen Akademie Heidelberg i. G. und hielt hauptamtliches Personal hier für entscheidend. Er berichtet von Bauplänen der Muslimischen Akademie, die viel Optimismus benötigten. Die Bedeutung langfristig stabiler Strukturen bei muslimischen Gruppen hob auch Claus Preißler, Beauftragter für Integration und Migration der Stadt Mannheim, hervor. Gerade in den letzten Wochen sei er angesichts des Nahost-Krieges sehr froh gewesen über solche langjährigen Beziehungen in seiner Stadt.

Rücblick auf fast neun Jahre Islamberatung...

Da es sich um die letzte Jahrestagung der Islamberatung handelte, gingen Dr. Hussein Hamdan und Prof. Dr. Andreas Pattar in ihrem traditionellen Projektbericht zum Ende der Tagung nicht nur auf das vergangene Jahr ein, dessen Höhepunkt die öffentliche Vorstellung von Hamdans Buch „Als Islamberatung unterwegs durch Baden-Württemberg. Erfahrungen – Herausforderungen – Orientierungen.“ darstellte, sondern blickten noch einmal zurück auf fast neun Jahre des Projektes. In dieser Zeit seien bislang 240 Beratungen durchgeführt worden, und der Bedarf nach Expertise zu Fragen des Islam in der Kommune bleibe weiterhin groß. Denn nicht nur werde die Islamlandschaft immer diverser; auch Kommunen erlebten ständig Veränderungen und neue Herausforderungen. Wie der aktuelle Nahost-Krieg zeige, stellten sich vor Ort neue Fragen oder bedürften bestehende einer erneuten Bewertung.

Hamdan beschrieb die vergangenen Wochen als die bislang intensivste Phase seines Wirkens als Islamberater. Er blickt mit Sorge auf den Umgang mit dem Thema Antisemitismus und fürchtet ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Dahinter stehe auch eine mangelhafte Aufarbeitung des Antisemitismus in Deutschland in den letzten Jahren. Hamdan kritisierte, dass die derzeitige Diskussion zu stark islamisiert werde und sich die Gesellschaft nicht ausreichend darauf vorbereitet habe, dass die in den letzten Jahren nach Deutschland geflüchteten Menschen ihre Sichtweise auf den Nahost-Konflikt mitgebracht hätten.

... und fragender Blick in die Zukunft

Neben Rückblick bot der Projektbericht auch ein paar Ausblicke auf die Zukunft der Islamberatung. Um das Projekt auch in den Jahren 2024 und 2025 fortsetzen zu können, wurden Landesmittel beim Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg beantragt, deren Bewilligung noch aussteht. Unabhängig davon hält es Hamdan für wünschenswert, dass die Islamberatung in Zukunft einmal eine dauerhafte Struktur erhält und aus dem Modell eines Projekts hinauswächst. Nach dem Weggang des bisherigen Projektleiters Hamdan soll das Projekt fortan von Dr. Christian Ströbele vom Akademie-Fachbereich Interreligiöser Dialog geleitet werden. Er stellte am Ende der Tagung einige Eckpunkte des künftigen Projekts vor und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass es weitergeführt wird, damit es sein Kernanliegen – Gesellschaft gemeinsam zu gestalten –, auch künftig umsetzen, dabei die besonderen Möglichkeiten der Akademie einbringen und das bewährte Projektteam größtenteils bestehen bleiben kann. Bereits ganz zu Beginn der Tagung hatte Muhittin Soylu von der Islamischen Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg (IGBW) in seinem Grußwort hervorgehoben, dass die Islamberatung eine wichtige Rolle für das gesellschaftliche Zusammenleben und das Miteinander von Muslim:innen und kommunalen Verantwortlichen spiele.

Auch wenn für den künftigen Projektzeitraum keine Jahrestagungen in bisheriger Form angeboten werden können, ist – vorbehaltlich der Bewilligung der Zuwendung durch das Land – für Freitag, den 21. Juni 2024 ein Projekttag zu Fragen des Islam in der Kommune geplant. Darin sollen verschiedene Themen in Workshops behandelt werden, darunter voraussichtlich auch Antisemitismus, Muslimfeindschaft und Islamismus in Kommunen. Aufgrund des veränderten Projektaufbaus können in Zukunft keine kurzfristigen telefonischen Beratungen mehr geleistet werden.

Die letzte Tagung mit Dr. Hussein Hamdan, bevor er die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart verlässt, findet am Dienstag, den 6. Februar 2024 statt. Im Rahmen der Reihe zu muslimischen Minderheiten geht es dann um das Thema Liberaler Islam. Weitere Informationen zu dieser Tagung finden Sie auf unserer Homepage.

In ihrem Vortrag nahm Simone Trägner eine Bestandsaufnahme zu Muslim:innen als enga-giertem Teil des kommunalen Lebens vor.
Stefan Zinsmeisters Vortrag verortete muslimisches Engagement in der deutschen Gesell-schaft.
Islamberater Dr. Hussein Hamdan bei der letzten Jahrestagung des Projekts
Das erste Podium sammelte viele Praxisbeispiele der Interaktion zwischen Muslim:innen und Kommunen. Mit dabei waren (v. l. n. r.) Kamal Ahmad (Ahmadiyya Muslim Jamaat Stuttgart), Fatma Gül (Landeshauptstadt Stuttgart), Prof. Dr. Andreas Pattar (Moderation), Stefan Schlagowsky-Molkenthin (Stadt Singen) sowie online zugeschaltet Fatih Şahan (DİTİB Ba-den-Württemberg).
Auf dem zweiten Podium diskutierten (v. l. n. r.) Dr. Hussein Hamdan (als Moderator), Gökay Sofuoğlu (Türkische Gemeinde in Baden-Württemberg (tgbw)), Michèl Ali Schnabel (Musli-mische Akademie Heidelberg), Aysun Pekal (Sozialdienst muslimischer Frauen (SmF))f und Claus Preißler (Stadt Mannheim) über die Bedeutung von Ehrenamt und hauptamtlichen Strukturen.
In ihrem Projektbericht blickten Prof. Dr. Andreas Pattar und Dr. Hussein Hamdan nicht nur auf das zurückliegende Jahr, sondern auch fast neun Jahre Islamberatung zurück. Zudem sprachen sie auch über die angedachte Zukunft des Projekts.
Für die Akademie DRS soll Dr. Christian Ströbele (Fachbereich Interreligiöser Dialog) künftig die Islamberatung leiten. Auf der Tagung ging er bereits kurz auf das angedachte Konzept für eine geplante weitere Projektphase ein.
Das Team der Islamberatung zusammen mit Referent:innen der Tagung (v. l. n. r.): Prof. Dr. Andreas Pattar (Hochschule Kehl), Dr. Christian Ströbele (Fachbereich Interreligiöser Dialog), Dr. Hussein Hamdan (Projektleiter und Islamberater), Simone Trägner (Islamberaterin), Abir Rebmann (Assistentin Islamberatung), Stefan Zinsmeister (Islamberatung in Bayern), Karim Saleh (Islamberater), Tim Florian Siegmund (wissenschaftlicher Assistent Islamberatung).
Rund 60 Personen verfolgten die letzte Jahrestagung der Islamberatung – vor Ort im Ta-gungszentrum Hohenheim und online.