| Teilhabe und Soziales
Inklusion als bleibende Aufgabe

Nicht nur das Sahnehäubchen obendrauf

Mobilität ist ein Menschenrecht, das Türen öffnet und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Bei der Stadt- und der Verkehrsplanung muss deshalb Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht werden.

Von Linda Huber

Mobilität ist ein wichtiges Menschenrecht und Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Im Alltag aber werden Menschen mit Behinderungen allzu häufig von Barrieren ausgebremst.  „Alle inklusive?! Barrierefrei und nachhaltig mobil“ haben wir deshalb als Motto über den Fachtag gestellt, der am 26. April 2023 von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und dem Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen Baden-Württemberg (LVKM) gemeinsam veranstaltet wird. Im Interview spricht LVKM-Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl darüber, wie es um die barrierefreie Mobilität steht und was getan werden muss, um Barrieren abzubauen.

 

Frau Pagel-Steidl, Mobilität ist ein wichtiges Stichwort, über das derzeit viel diskutiert wird. Es steht sogar in der UN-Behindertenrechtskonvention. Was umfasst der Begriff, und weshalb ist es so wichtig, dass das Recht auf Mobilität in der Konvention verankert ist?

Barrierefreie Mobilität oder Mobilität allgemein ist ein Menschenrecht. Jeder und jede soll überall selbstbestimmt dorthin kommen können, wohin er oder sie will. Das ist einmal wichtig, weil Mobilität ein Schlüssel zur Teilhabe ist. Auf dem Weg zur Arbeit, zur Freizeitgestaltung gibt es unglaublich viele Barrieren, die Menschen, die keine Mobilitätseinschränkungen haben, einfach nicht bemerken. Sie können sagen: „Okay, ich habe jetzt Lust, Freunde zu besuchen, ganz spontan.“ Dann machen sie das einfach, wenn sie Zeit haben. Wenn aber jemand, der oder die mit dem Rollstuhl unterwegs ist und kein eigenes Auto hat oder aufgrund der Schwere der Behinderung nicht selber autofahren oder vielleicht Bus und Bahn nicht nutzen kann, so etwas machen möchte, ist dazu beispielsweise einen Sonderfahrdienst nötig. Den muss man einige Tage vorher anmelden, um überhaupt eine Chance zu haben, eine Fahrt zu kriegen. Und dann ist da nix mit spontan Freunde treffen, Eisessen oder was auch immer. Deshalb ist Mobilität, auch barrierefreie Mobilität, der Schlüssel zur Teilhabe für alle.

 

Können Sie an einem Beispiel konkretisieren, von welchen Barrieren Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag ausgebremst werden können?

Um beispielsweise die Bahn nutzen zu können, muss ich erst mal auf den Bahnsteig. Dann brauche ich einen Zug, in den ich mit dem Rollstuhl reinkomme. Gestern war ich mit der S-Bahn in Stuttgart unterwegs und wollte nach Kirchheim (Teck) fahren. Zum Glück bin ich nicht auf den Rollstuhl angewiesen. Denn plötzlich hieß es, die S-Bahn endet in Wendlingen. Der Bahnhof Wendlingen hat aber keinen Aufzug. Wäre ich also mit dem Rollstuhl unterwegs gewesen, dann wäre ich mit einer Rampe noch aus der S-Bahn gekommen, dann aber auf dem Bahnsteig stehengeblieben. Die Alternative wäre gewesen, statt nach Kirchheim zu fahren, wieder zurück nach Plochingen zu fahren. Und das ist keine Alternative! Das macht es so schwer, wenn Menschen mit einer Einschränkung auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Und das hier war ist nur ein Beispiel von vielen.

 

Da hören die Probleme mit der Nutzung des ÖPNV aber nicht auf. Können Sie erläutern, warum Menschen mit Behinderung nicht immer ohne Probleme in den Zug einsteigen können, selbst wenn die Bahnhöfe an sich barrierefrei sind?

Die Bahnsteige sind oftmals erreichbar mit dem Rollstuhl. Aber dann kommt es darauf an: Wenn der Abstand zwischen Bahnsteigkante und Fahrzeug so groß ist, dass die Vorderräder vom Rollstuhl dazwischen absinken können, dann ist das einfach ein Aus. Wir haben das erlebt, als wir mit einem Menschen im Rollstuhl unterwegs waren. Der junge Mann nutzt einen E-Rollstuhl, also ein richtig schweres Gerät. Mensch und Rollstuhl zusammen, da reden wir von 230 Kilo aufwärts. Beim Einsteigen in die Bahn hat sich das kleine Vorderrad in der Spalte zwischen Bahnsteig und Stadtbahn verhakt. Wir waren zwei Frauen, wir hatten nicht die Kraft, diesen jungen Mann aus seiner misslichen Lage zu retten. Und die Bahn konnte ja auch nicht anfahren, weil wir die Tür blockiert haben. Dann haben wir den Notruf gedrückt, also den Fahrer alarmiert. Der war unwirsch und meinte, man soll mal gucken, wie man da reinkommt, er kann nicht aus seinem Fahrerhaus raus. Da haben wir drei starke Jungs angesprochen, die uns geholfen haben. Aber die Folge einfach ist die, dass der betroffene junge Mann gesagt hat: „Ich traue mich nicht allein Bahn zu fahren, davor habe ich Angst.“

 

Von der Barrierefreiheit würden ja nicht nur Menschen mit Behinderung profitieren, sondern auch Reisende mit schweren Koffern oder Menschen, die mit Kinderwagen unterwegs sind...

…und beispielsweise auch Menschen, die mit Fahrrad und Gepäck unterwegs sind. Sie sind auch darauf angewiesen, dass sie auf den Bahnsteig und problemlos in den Zug reinkommen. Niemand, der so unterwegs ist, möchte, dass es womöglich heißt: „Wegen der oder wegen dem kommt jetzt die Bahn aus dem Takt und wir kriegen Verspätung.“ Das ist einfach unangenehm,  und dazu braucht es einen komplett barrierefreien Nahverkehr, damit ich einsteigen kann, egal ob ich jung, dynamisch, schwungvoll bin, ob ich sehen und alles tun kann, oder ob ich im Rollstuhl unterwegs bin, mit dem Rollator, ob ich sehr eingeschränkt oder blind bin. Es ist wichtig, dass ich einfach rein- und rauskomme und dass überhaupt nicht auffällt, wenn ich eine Einschränkung habe, die mich sonst in der Mobilität behindert.

 

Wir diskutieren in unserer Gesellschaft viel über eine Verkehrswende und dass mehr Menschen zum Beispiel den öffentlichen Nahverkehr nutzen sollen. Das Land Baden-Württemberg möchte mit dem „Landeskonzept Mobilität und Klima“ dafür sorgen, dass alle Menschen mobil sein können und zugleich das Klima geschützt wird. Denkt das Konzept die Menschen mit Behinderung ausreichend mit? 

Nein, ganz klares Nein! Wir haben das im Nachgang kommentiert, weil die Barrierefreiheit von Anfang an komplett mitgedacht werden müsste. Ein Stück Kuchen kann ich mit oder ohne Sahne essen, und die Barrierefreiheit wird immer noch als Sahnehäubchen verstanden: Das kann ich machen, ich muss es aber nicht. Und das ist falsch! Ich muss die unterschiedlichen Behinderungen und die daraus folgenden unterschiedlichen Einschränkungen  mitberücksichtigen. Da ist nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch auf Bundesebene noch ganz viel Luft nach oben. Das Konzept, das das Land vorgelegt hat, reicht nicht aus.

Wir brauchen ganz viele Dinge, um unterwegs sein zu können. Es ist auch wichtig, dass man das Auto nicht komplett verteufelt. Menschen mit starker Mobilitätseinschränkung sind nach wie vor auf einen eigenen PKW oder auf einen Fahrdienst angewiesen, weil sie eben nicht anders mobil sein können. Das machen die nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil sie keine Alternative haben. Sie werden oftmals als „Klimakiller“ hingestellt, was sie aber nicht sind. Sie würden sehr gerne was anderes nutzen, wenn es denn einen flächendeckenden, geeigneten Nahverkehr gäbe. Dazu gehört auch ein barrierefreies Rufbussystem. Was nützt es mir denn, wenn ich auf dem flachen Land wohne, wo sich ein Linienbus nicht lohnt? Ich brauche also einen Rufbus. Und der muss dann auch meinen Rollstuhl transportieren können, sonst bleibe ich wieder außen vor. Barrierefreiheit und Klimaschutz gehen zusammen, wenn ich beides von Anfang an ganz selbstverständlich zusammendenke.

 

Wenn Sie selbst in der Position wären, ein Konzept zu entwickeln, dessen Maßnahmen in den nächsten fünf Jahren umgesetzt werden könnten, was würden Sie zuerst angehen?

Ich würde mehr fördern, aber nur komplett barrierefreie Verkehrsmaßnahmen. Ganz konsequent, denn die barrierefreie Reisekette ist nur so gut wie das schwächste Glied. Ich muss unterwegs sein können und Alternativen haben. Ich würde aber auch On-Demand-Angebote, also Rufangebote, barrierefrei gestalten. Auch Carsharing sollte für Menschen mit Mobilitätseinschränkung nutzbar werden – gut, bei blinden Menschen und dem Selberfahren braucht es noch eine Weile, aber auch da gibt es Entwicklungen. Außerdem würde ich dafür sorgen, dass es E-Ladestationen an Behindertenparkplätzen, also barrierefreien Parkplätzen, gibt.

Das Bundesverkehrsministerium will mehr tun für den Radverkehr, das ist super, denn es braucht mehr barrierefreie Radinfrastruktur. Es braucht zum Beispiel Radparkhäuser, in denen man auch Sonderfahrräder abstellen kann, beispielsweise ein Spastiker-Dreirad, ein Lastenfahrrad für einen Rollstuhl, all solche Dinge. Dafür ist mehr Platz nötig.

Ich muss Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken und in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen und ihre Verbände von Anfang einbeziehen, so wie ich immer ganz automatisch auch die Fachplaner miteinbeziehe. Dahingehend muss das Bewusstsein wachsen.

 

Ideen für eine barrierefreie Mobilität wird die Tagung „Alle inklusive?!“ am 26. April 2023 aufzeigen. Unter anderem spricht die bundesweit bekannte Mobilitäts-Expertin Katja Diehl. Die Fernseh-Moderatorin und Journalistin Sandra Olbrich berichtet in einem Talk von ihren persönlichen Erfahrungen. In einem Fachvortrag referiert Dr. Markus Rebstock von der Bundesfachstelle über eine barrierefreie Stadt- und Verkehrsplanung, bevor ein Blick in die Praxis geworfen wird: Es geht um barrierefreies Radfahren, um die Aktion des Landesseniorenrates „Geh weg von meinem Gehweg!“, um barrierefreie Rastplätze und um barrierefreie Orientierungshilfen am Beispiel des Reutlinger Stadtbusverkehrs. Abschließend wagen wir mit Matthias Haimerl aus Ingolstadt eine Zukunftsprognose und diskutieren die Potenziale und Herausforderungen des autonomen Fahrens.

Programm und Anmeldung
Bitte melden Sie sich bis zum 12. April 2023 an unter:

www.akademie-rs.de/vakt_24626