| Johannes Kuber | Geschichte und Politik
Online-Abendveranstaltung

NS-Mythen und Verschwörungsdenken

In einem Online-Vortrag des Fachbereichs Geschichte zeigte Prof. Dr. Jens-Christian Wagner auf, wie Corona-LeugnerInnen die Geschichte instrumentalisieren.

„Anne Frank wäre auf unserer Seite“ – mit diesem und ähnlichen Sprüchen wappneten sich seit Beginn der Corona-Pandemie „Querdenker“, Reichsbürger und die Neue Rechte. Oft werden auf Demonstrationen oder in den Sozialen Medien von den Corona-Leugnern und Gegnern der Maßnahmen Vergleiche mit dem NS-Regime gezogen. Im selben Zug erklären sich die Demonstrierenden als Verfechter der Freiheit und als Widerstandskämpfer gegen eine vermeintliche „Corona-Diktatur“ und stellen sich dabei auch ganz bewusst in die Tradition des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Geschichtsrevisionismus nicht nur bei uns

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, zeigte in seinem Vortag „Corona-Diktatur“? Geschichtsrevisionismus und Schuldabwehr unter Pandemieleugnern am 27. Juli, wie von Corona-Leugnern die Geschichte instrumentalisiert wird und wo die Gefahren darin liegen. Er stellte dabei heraus, dass Geschichtsrevisionismus im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kein rein deutsches Phänomen ist. Diese Tendenzen lassen sich auch in Italien, Frankreich und den USA finden. Zudem sind Verschwörungstheorien wie Q-Anon, welche durch die Pandemie in Deutschland viele neue Anhänger gewann, global und leben in Pandemiezeiten neu auf.

Zahlreiche Beispiele von Protesten der vergangenen Monate warfen viele Fragen auf. Wo sind die inhaltlichen Überschneidungen bei einer so heterogenen Protestgruppe? Wie können angebliche Verteidiger des Grundgesetzes neben Neonazis stehen und das Ende der „Corona-Diktatur“ fordern? Wieso vermischen sich durchaus auch legitime Bedenken gegenüber den vorübergehenden Grundrechtseinschränkungen  so häufig mit unfundierten Verschwörungstheorien?

Alte Mythen und Legenden leben auf

Jens-Christian Wagner erklärt den Schulterschluss mit den Rechten mit dem Bedürfnis nach einer natürlichen Ordnung, die vom Nationalsozialismus vorgegeben wird. Weiterhin spiele die Suche nach einer einfachen Erklärung in einer wirtschaftlich unsicheren Zeit eine wichtige Rolle. Rechtsextreme Antworten auf komplizierte Probleme können als Ausweg aus Existenzängsten und Verzweiflung dienen. „Querdenker“ und andere können sich so in die rechte Szene oder eine Verschwörungstheorie flüchten. Um ihr Gedankengut zu verbreiten, betreibt die „Neue Rechte“ Begriffsumdeutung und Schuldumkehr und lässt alte Mythen und Legenden wiederaufleben. So wird unter Freiheit im rechtsextremen Sinn nicht eine individuelle Handlungsfreiheit verstanden, sondern die Befreiung von einem jüdisch konnotierten „Finanzkapital“ oder der „Corona-Diktatur“. Antisemitische Verschwörungstheorien werden so wiederbelebt.

Durch die häufige Gleichsetzung aktueller Zustände mit dem Nationalsozialismus werden laut Wagner dessen Opfer instrumentalisiert und seine Verbrechen verharmlost. Durch die Verbreitung falscher NS-Vergleiche in den Sozialen Medien könnten sich auch viele  Menschen schnell radikalisieren. Es bestehe zunehmend die Gefahr, dass sich diese verkehrten Geschichtsbilder durch die Rezeption in den Parlamenten gesellschaftlich etablieren.

Geschichte begreifbar machen

In der anschließenden Diskussionsrunde mit den rund 60 aus ganz Deutschland, Frankreich und der Schweiz zugeschalteten TeilnehmerInnen stand die Frage im Vordergrund, wie Geschichtsrevisionismus und NS-Relativierungen entgegengewirkt werden kann. Für Jens-Christian Wagner stehen vor allem Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten, die Medien und die Politik, aber auch Gedenkstätten in der Verantwortung. Es gehe darum, anhand konkreter und aktueller Themen die tatsächlichen geschichtlichen Begebenheiten begreifbar und die Unterschiede zwischen damals und heute deutlich zu machen. Auch eine neue Schwerpunktsetzung könnte den gefährlichen Diskursen entgegenwirken: Statt eines immer formelhafteren Gedenkens und der oberflächlichen Darstellung einzelner Opferschicksale brauche es einen verstärkten Blick auf die historischen Täter, Mitläufer und den gesamthistorischen Kontext.

Auch der Deutschlandfunk sprach im Vorfeld der Veranstaltung mit unserem Referenten. Das kurze Interview finden Sie unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/gleichsetzungen-mit-der-nazizeit-historisches-wissen-allein.1008.de.html?dram:article_id=500891.

(Clara Müller)

Medienecho

Bericht im Deutschlandfunk:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/gleichsetzungen-mit-der-nazizeit-historisches-wissen-allein.1008.de.html?dram:article_id=500891

 

Demonstration in Darmstadt, 9.5.2020
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner