| Teilhabe und Soziales
Ver-rückte Debatte

Nur eine Frage der Sensibilität?

Neurechte Akteur:innen arbeiten mit „fake news“ oder bewusst polemischen Verzerrungen. Die öffentliche Debatte, der Diskurs in den Medien und der Politischen Bildung drohen sich zu verschieben.

Von Linda Huber

Was in unserer Gesellschaft als sagbar gilt, muss immer wieder neu verhandelt werden. Gezielt übertreten neurechte Akteur:innen diese unsichtbaren Grenzen des Sagbaren, provozieren mit Falschinformationen, bewussten Verzerrungen oder polemischen Übertreibungen.  Während die Aussagen mutmaßlich radikaler werden und die Grenzen sich zu verhärten scheinen, erheben sich viele Stimmen, die vor einem gesellschaftlichen wie auch einem diskursiven Rechtsruck warnen. Eine Tagung in Kooperation mit der Universität Tübingen fragte am 1. und 2. Dezember 2023 danach, welche Kennzeichen sich für diese vielbeschworene „Diskursverschiebung nach rechts“ finden lassen. Inwiefern vermischen sich neurechte und konservative Diskursstrategien? Welche Medien und Netzwerke spielen eine Rolle?

Gesellschaftliche und politische Macht kann beanspruchen, wem es gelingt, im öffentlichen Diskurs eigene Deutungsmuster und Narrative zu verfestigen – ganz egal, ob diese die Realität abbilden oder nicht. Die wiederholte Konfrontation mit bestimmten Erzählungen konsolidiere Wissensstrukturen, erklärte Dr. Floris Biskamp. Er leitet ab Januar 2024 ein DFG-Projekt an der Universität Tübingen, das den Sagbarkeitsgrenzen im politischen Diskurs nachspürt. Ob die Gesellschaft hierbei empfänglicher für rechtsextreme Positionen ist als noch vor wenigen Jahren, lasse sich nicht pauschal für alle Themengebiete bestätigen. Man müsse kritisch reflektieren, ob es neurechten und rechtsextremen Akteur:innen mit ihren metapolitischen Bestrebungen wirklich gelungen sei, Einstellungen, Begriffe und Mentalitäten nachhaltig zu verändern.

Die stabile „Mitte“ gibt es nicht mehr

Oder wächst vielmehr die Sensibilität gegenüber früher als hinnehmbar beziehungsweise als normal geltenden menschenfeindlichen Äußerungen? Während etwa migrationsfeindliche rechte Diskurse gerade während der letzten Monate auch von den Regierungsparteien in besorgniserregendem Maß übernommen worden seien, habe sich zum Beispiel die gesellschaftliche Haltung zu Homosexualität in den letzten Jahrzehnten stark liberalisiert.

Tatsächlich ist laut Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 die Zahl derjenigen Personen, die manifeste autoritäre und rechtsextreme Einstellungen aufweisen, seit Jahren rückläufig. Gleichzeitig seien die latenten Zustimmungswerte weiter hoch. In einem großen Teil der Bevölkerung seien sozialdarwinistische, antisemitische oder chauvinistische und fremdenfeindliche Haltungen verbreitet; manche Deutsche befürworteten sogar Elemente einer rechtsautoritären Diktatur. Diese Personen könnten in beide Richtungen mobilisiert werden, betonte Dr. des. Ayline Heller, Co-Autorin der Studie. Insgesamt seien ein großes Polarisierungspotenzial in den Debatten und eine hohe Fragmentierung zu beobachten; Zustimmungswerte ließen sich in fast allen gesellschaftlichen Milieus nachweisen. Die sogenannte „Mitte“ der Gesellschaft, ein vermeintlich neutrales Bollwerk gegen menschenfeindliche Positionen, gebe es in dieser Geschlossenheit nicht. Immerhin mehr als ein Drittel der Befragten in Deutschland stimme beispielsweise der Aussage zu, man fühle sich durch viele Muslim:innen manchmal wie ein:e Fremde:r im eigenen Land.

Fokus Flucht und Migration

In den Debatten um Flucht und Migration sieht Biskamp ein anschauliches Beispiel für eine Radikalisierung der Diskurspositionen in den vergangenen Jahren. Zunehmend würden sozialdarwinistische und rassistische Deutungen der AfD im breiten Parteienspektrum aufgegriffen und fänden breite Akzeptanz. 

Wann genau man von einer Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen sprechen könne, lasse sich vor allem an Topoi wie „Massenmigration“, „Cancel Culture“ oder „Wokeness“ ablesen, argumentierte Dr. des. Felix Schilk (Universität Tübingen). Mittels dieser vorgeprägten Sprachbilder würden Akteur:innen rechtes Denken für die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts aktualisieren und versuchen, extremrechte Positionen zu normalisieren.

Auch das Erzeugen bestimmter Geschichtsbilder trägt dazu bei, dass sich rechte Deutungen im Diskurs etablieren, wie Dr. des. Sarah Huber erläuterte. Die Geschichtswissenschaftlerin analysiert die vom Institut für Staatspolitik herausgegebene Zeitschrift Sezession. Durch selektive und monoperspektivische Erzählweise werde in den Artikeln ein Wahrheitsanspruch erzeugt. Die bewusste Simulation einer empirischen Triftigkeit sei attraktiv für eine breite Leserschaft, insbesondere für diejenigen, die eine geringe Ambiguitätstoleranz aufweisen, argumentierte Huber. Sprachliche Codes sowie das Spiel mit Verharmlosung und Provokation erzeugten dabei große Anschlussfähigkeit. Häufig werde beispielsweise das Narrativ eines „Volks als Schicksalsgemeinschaft“ bespielt, oft verknüpft mit einem Bedrohungsszenario, das vor dem Verlust einer vermeintlichen ethnischen Homogenität warne.

„Pingpong zwischen Mainstream und rechtem Rand“

Begriffe wie „raumorientierte Volkswirtschaft“ oder „Ethnopluralismus“ ermöglichten es der Neuen Rechten, sich sowohl vom rechtsextremen Rand zu distanzieren, als auch dessen Konzepte sprachlich so zu rahmen, dass sie für andere Milieus akzeptabel erscheinen, erklärte auch Helmut Kellershohn vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Hilfreich sei dabei, dass in den bekannten rechten Sprachrohren Autor:innen publizieren, die generell als seriös gelten und sich am hegemonialen Diskurs orientieren. Beispielsweise gäben in der Zeitung Junge Freiheit die gleichen renommierten Ökonomen ihre Expertise ab wie etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Auch Martin Hauff (Universität Frankfurt a.M.) sieht in der Berichterstattung über Wirtschaftsdebatten die Grenzen verschwimmen. Es sei ein „Pingpong-Spiel zwischen dem Mainstream und dem rechten Rand“, welcher Themen und Veränderungen in der sogenannten „Mitte“ aufgreife und verstärkt an diese zurückspiegele, resümierte Kellershohn.  

Zugleich gelingt es rechten Alternativmedien, Themen im breiten Mediendiskurs zu verankern, die dort bislang kaum Beachtung fanden. Dahinter steckt der sogenannte Spillover-Effekt. Entscheidend dafür ist laut Tilman Klawier (Universität Hohenheim), dass mehrere Faktoren zusammenspielen und sich der Nachrichtenwert einer Meldung für Mainstreamangebote damit erhöht. Anhand unterschiedlicher Beispiele führte Klawier den Tagungsteilnehmer:innen vor Augen, dass die Themen von Alternativmedien für die Boulevardpresse vor allem dann attraktiv sind, wenn sie skandalisiert werden können. Einfluss nimmt auch, wenn nicht nur Journalist:innen, sondern unterschiedliche Akteur:innen, beispielsweise AfD-Politiker:innen, involviert sind. 

Christliche Publizistik als Nährboden für Rechte

Die Organe der Neuen Rechten weisen häufig enge personelle Verbindungen zu selbsterklärten Rechtsintellektuellen auf. Prominente wie der ehemalige Nachrichtensprecher Peter Hahne warnen in rechtspopulistischen Onlinemagazinen wie Tichys Einblick vor vermeintlichem Genderwahn und Kulturverfall.

Einen „Nährboden für die Diskursverschiebung nach rechts“ biete beispielsweise auch die christliche Publizistik, wenn sie antifeministische oder queerfeindliche Positionierungen aufgreife, warnen Astrid Edel und Dr. Hans-Ulrich Probst (Uni Tübingen). Anhand einer Analyse der von idea, einer evangelikalen Christ:innen nahestehenden Nachrichtenagentur, publizierten Artikel zeigten sie, dass diese als Diskussionsplattform eine Scharnierfunktion zwischen Rechtspopulist:innen und konservativen Christ:innen einnehmen kann.

Da stellt sich die Frage, was getan werden kann, damit rechte Krisennarrative nicht nachhaltig verfangen. Wer zu alarmierend berichtet, läuft Gefahr, Erfolge von Antirassismus und Emanzipation zu schmälern und zugleich den Eindruck zu erwecken, rechtspopulistische Deutungen würden die Mehrheitsmeinung abbilden. Wer aufstehen möchte gegen rechts, muss Gegenerzählungen schaffen und die Inkonsequenz und die Absurdität rechter Narrative aufdecken. Dazu braucht es breite gesellschaftliche Bündnisse.  

Das Medienecho zur Tagung: