| Dr. Christian Ströbele | Interreligiöser Dialog

Wie weiter trotz der Taliban?

Wie steht es um die aktuelle Situation in Afghanistan und deren Folgen für die Zivilgesellschaft und die internationale Politik? Darüber sprachen drei ExpertInnen in einer Online-Diskussion.

Von Nicolas Conrads

Zwei Fotos von einer Graffitiwand in einer afghanischen Straßenszene, die die Referentin beim Akademieabend zur Lage in Afghanistan zeigte, standen bildhaft für die hoch prekäre Situation der afghanischen Gegenwart: Auf dem einen Foto zu sehen waren Schriftzüge, die beispielhaft den großen Mut in der afghanischen Zivilgesellschaft zeigen; auf dem anderen Foto dieselbe Straßenszene, inzwischen weiß getüncht und in säuberlichen schwarzen arabischen Buchstaben beschrieben mit einer Propaganda-Botschaft der Taliban: eine Bemächtigung über den öffentlichen Raum, die sich so auf vielen Straßen Afghanistans gegenwärtig vollzieht. Was bleibt von der lebendigen Buntheit unter diesen Neubesetzungen?

Die Abendveranstaltung „Alles vergebens? Der Wiederaufstieg der Taliban und die Folgen für Politik und afghanische Zivilgesellschaft“, veranstaltet von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Fachbereiche Migration und Menschenrechte und Interreligiöser Dialog) in Kooperation mit der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, führte drei ExpertInnen zusammen mit einer großen Zahl interessierter Teilnehmender: Insgesamt hatten sich mehr als 550 VertreterInnen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Anwalt- und Richterschaft, Verwaltung, Kirche und Politik angemeldet. Mit den Auswirkungen der aktuellen humanitären Lage in Afghanistan hatten viele der MitdiskutantInnen unmittelbar zu tun. Stellt sich doch in den unterschiedlichsten Arbeitszusammenhängen derzeit eine Frage in je eigener Weise, die den Titel des Abends einleitete: ob nämlich der Einsatz über all die Jahre „vergebens“ war – und welche Perspektiven nun noch verbleiben. Die drei ReferentInnen des Abends ordneten die komplexen Verhältnisse aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive ein: Friederike Stahlmann die zivilgesellschaftliche und humanitäre Situation, Arvid Bell die Handlungsoptionen der internationalen Politik, Idris Nassery die religiöse bzw. religiös-ideologische Dimension.

Wofür stehen die Taliban?

„Wer sind die Taliban? Und wofür steht diese Bewegung?“ Eine Frage, die sich in den vergangenen Monaten mit großer Intensität und hochaktueller Notwendigkeit bei JournalistInnen, Staaten auf der ganzen Welt und nicht zuletzt den Menschen in Afghanistan selbst gestellt hat. Es geht um eine Frage, auf die eine einfache Antwort unmöglich ist. Die notwendige Vielschichtigkeit bei der Betrachtung der Taliban und ihrer Ziele betonte Prof. Idris Nassery, Juniorprofessor für Islamische Normenlehre an der Universität Potsdam, in seinem einleitenden Impulsvortrag. Anschaulich wurde dies durch Zitate verschiedener Personen zur Frage, wer die Taliban sind: Nassery zitierte unter anderem eine emanzipierte Frau aus der Großstadt, die die Taliban für frauenverachtende und unmenschliche Barbaren hält, aber auch einen Landbewohner mit der Auffassung, dass die Taliban weniger korrupt seien als die Regierung und eher für Sicherheit und Gerechtigkeit sorgten. In den unterschiedlichen Zitaten finde sich, so Nassery, eine Dimension der Taliban beschrieben. Das vordringlichste für die mehr als 20 Millionen Menschen auf den Straßen Afghanistans, denen es um das nackte Überleben geht, sei aber die – nun auch an die Taliban gerichtete – Erwartung: „Lasst uns nicht verhungern!“

In der Antwort auf die Frage, wofür die Taliban stehen, hob Nassery ein Merkmal besonders hervor: Die Taliban seien durchaus wandlungsfähig – und auch für die nähere Zukunft seien unterschiedliche Entwicklungen vorstellbar. In seinem einführenden Rückblick unterschied Nassery drei Entwicklungsphasen: Innerhalb der ersten Phase von 1994 bis 2001 ging es den Taliban um Formation, Konstitution und Legitimation. Die zweite Phase habe 2001 mit der Neuformierungsphase im Untergrund begonnen, die durch eine fortschreitende Professionalisierung zur erneuten Machtübernahme im August 2021 führte. Die damit beginnende aktuelle Phase sei geprägt durch verschiedene Bewegungen, bei denen es sowohl um Machtverteilung und Orientierung als auch um die Suche nach (internationaler) Anerkennung geht.  

Trotz der Veränderung der Taliban in all diesen Phasen gebe es bestimmte Kontinuitäten: Die Taliban haben eine klare Stammeshierarchie, von der ein erheblicher Anteil ihres Einflusses abhängt. Dabei sind sie vor allem paschtunisch geprägt und stützen sich vorrangig auf die Unterstützung der Landbevölkerung. Ein erheblicher Anteil der Mitglieder der Taliban besteht aus Analphabeten, die für Kriegshandlungen eingesetzt werden. Sehr verbreitet sei eine „Wir-gegen-sie-Ideologie“, in der besonders die Frauen und die Stadtbevölkerung als verantwortlich für die moralische Verkommenheit angesehen würden. Anschaulich werde dies am Arbeitsverbot für Frauen. Dieses ziele nämlich weniger auf Frauen auf dem Land, die in der Landwirtschaft oder im Haushalt arbeiten, als vielmehr vorrangig auf die Stadtbevölkerung.

Anwendungen „der Scharia“?

Zentral für die Taliban sei die Vorstellung einer islamischen Gesellschaftsordnung. Nassery problematisierte allerdings, dass der Anspruch der Taliban, „die Scharia einzuführen“, verkenne, dass in der bisherigen 130-jährigen Geschichte Afghanistans ein Bezug auf die Scharia in unterschiedlicher Weise stets eine Rolle gespielt habe. So bezog sich bereits die frühe Staatsverfassung auf die Scharia. Zudem stehe die tatsächliche Rechtspraxis unter den Taliban in eklatanten Widersprüchen zu Grundsätzen des islamischen Rechts.

Entscheidend sei deswegen, was die Taliban mit der „Einführung der Scharia“ konkret meinen. Dabei zeige sich, so Nassery ebenso wie Stahlmann, oftmals, dass von der klassischen Scharia abgewichen werde. So würden wesentliche materiell-rechtliche Vorgaben, beispielsweise zur Erbverteilung, nicht angemessen beachtet. Besonders eklatant sei dabei die Benachteiligung von Frauen. Ebenso würden prozessrechtliche Vorgaben ignoriert, beispielsweise zur Beweiserhebung. Stattdessen reichten oftmals bereits Gerüchte für eine Verurteilung und in materieller Hinsicht werden statt der Vorgaben der islamischen Rechtstradition häufig Konventionen des paschtunischen Stammesrechts gefolgt. Dies führe zu einer hohen sozialen Unsicherheit und Misstrauen: Man kennt die Regeln nicht und ist jederzeit dem Risiko ausgesetzt, bestraft oder verfolgt zu werden.

Auffallend sei, dass politische Verfolgung oft in einer engen Verbindung mit dem Strafrecht steht. Dabei ist klar eine abschreckende Wirkung intendiert, die immer wieder dadurch unterstrichen wird, dass Leichen öffentlich ausgestellt werden oder Menschen Körperstrafen und Züchtigungen, wie öffentlichen Auspeitschungen, unterzogen werden.

Menschenrechtsverletzungen und Ungewissheiten

Mit Blick auf die aktuelle Situation im Land verwies Friederike Stahlmann, Afghanistan-Expertin, die insbesondere als Gutachterin zu Afghanistan für deutsche und österreichische Gerichte tätig ist, darauf, dass Versorgungssituation und Sicherheitslage schon lange bedrohlich seien. So wies der Global Peace Index Afghanistan das vierte Jahr in Folge als eines der unsichersten Länder der Welt aus. Der Krieg hat seine Spuren mit schwerwiegenden Konsequenzen für die nächsten Jahrzehnte hinterlassen. So gebe es für 2021 bereits (Stand: 20. September) 681.332 kriegsbedingt Binnenvertriebene. Wichtige Infrastruktur wie Gesundheitszentren wurde zerstört und viele Kriegsverletzte tragen bleibende physische oder psychische Schäden davon.

Durch Überwachung und Verfolgung sichern die Taliban ihre Macht. Dies geschieht in weiten Teilen durch soziale Kontrolle, aber ebenso durch einen gut organisierten Geheimdienst und Spitzel. Immer noch stehen viele Personen, die beispielsweise die Regierung oder als Ortskräfte internationale Truppen unterstützt haben, auf Suchlisten der Taliban und müssen um ihr Leben fürchten.

Und dennoch bleiben laut Stahlmann viele offene Fragen. Die Prioritäten der neuen Führung sind noch nicht gewiss. Es geht dabei um Fragen der Machtverteilung ebenso wie um ideologische und ganz praktische Ausrichtungen. Welche Regeln werden die Taliban auch mit roher Gewalt durchsetzen, wo werden sie Kompromisse eingehen, um den Rückhalt in der Bevölkerung nicht zu verlieren? Jedoch lägen auch noch Strukturen der Herrschaft und der Durchsetzung im Argen und seien erst teilweise, vorrangig auf lokaler Ebene, etabliert.

Trotz dieser Ungewissheiten und offenen Fragen seien bestimmte Entwicklungen erwartbar: Je mehr die Macht der Taliban konsolidiert sei, desto kleiner würden voraussichtlich die zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräume. Dies sei besonders bedauerlich, da sich in den letzten Jahren eine sehr mutige Zivilgesellschaft entwickelt habe, die nun wieder starke Rückschläge erlebt.

Proteste werden gegenwärtig häufig gewaltsam niedergeschlagen und auch systematische Menschenrechtsverletzungen werden weiterhin an der Tagesordnung sein, ebenso wie die starken Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Zwar könnten sich gegenwärtig JournalistInnen verhältnismäßig frei in Landesteilen bewegen, die Berichtslage sei aber derzeit schwach und ohnehin könne deren Lagebild nur ausschnitthaft sein, unter anderem wegen Ängsten und Vorsichtigkeit in der Bevölkerung. Hilfslieferungen würden derzeit immer wieder blockiert, es gebe zahlreiche Berichte von Vertreibungen, Landraub und kollektiven Hinrichtungen einflussreicher Personen. Die Situation für Frauen sei besonders prekär. Sie dürfen teilweise nur mit Männern in der Öffentlichkeit unterwegs sein, ihnen wird der Besuch der Universität oder Schule verboten, ebenso wie die Benutzung von Smartphones. Gewalt gegen Frauen sei weit verbreitet und werde nicht verfolgt. Zu erwarten seien Machtverschiebungen innerhalb der Taliban und auch, dass die Kämpfe zwischen Taliban und IS sich fortsetzen.

Ein Möglichkeitsraum für Verhandlungen?

Friedens- und Konfliktforscher Arvid Bell, Direktor der Verhandlungs-Taskforce am Davis Center für Russische und Eurasische Studien und Dozent für Regierungslehre an der Harvard-Universität, betrachtete die Situation in Afghanistan aus einer Verhandlungsperspektive. In Afghanistan geschehe aktuell ein ungeklärter Machtübergang, bei dem viel Veränderung geschieht und sich die verschiedenen Akteure neu sortieren. Diese Neuausrichtung betreffe sowohl die Taliban als auch die Anrainerstaaten, von denen niemand ein Interesse an einer Eskalation der Lage habe.

Um diese aktuelle Situation einer relativen Offenheit als Chance zu ergreifen, müssten sich alle Staaten, die helfen bzw. sich engagieren wollen, stärker über ihre Interessen und Ziele klar werden, was bisher zu großen Teilen noch nicht ausreichend geschehen sei: Geht es dabei primär um Terrorismusbekämpfung, um geopolitische Interessen, um humanitäre Ziele? Und wie findet eine Gewichtung im Fall von Zielkonflikten statt? Auf der anderen Seite sei aus einer Verhandlungsperspektive relevant, was die Taliban wollen. Eines ihrer vorrangigen Ziele, die – von ihnen als solche verstandenen – Besatzer aus dem Land zu werfen, haben sie mittlerweile erreicht. Weiterhin möchten sie „der Scharia“ zur Durchsetzung verhelfen und schließlich internationale Anerkennung erlangen. Gerade Letzteres biete Ansatzstellen für die internationale Politik.

Dabei zeige ein Blick auf die Interessen der jeweiligen Seiten, dass Verhandlungen eine Chance für Deeskalation bieten. Wichtig sei, dass es im Unterschied zu einer kompletten Anerkennung der Taliban zunächst viele kleine mögliche Schritte und Möglichkeiten für Anreize bzw. Sanktionen gebe, beispielsweise das Entfernen von Einzelpersonen der Taliban von Sanktionslisten im Gegenzug zu Zugeständnissen. Zudem gehe es nicht allein darum, die Legitimation nur von außen durch andere Staaten zu etablieren. Vielmehr könne als Bedingung für internationale Anerkennung bzw. internationale Zugeständnisse gefordert werden, eine Legitimationsbasis im afghanischen Volk zu schaffen.

Hinsichtlich der Frage nach Anerkennung der Talibanherrschaft bzw. ihrer Legitimation im afghanischen Volk wies Stahlmann darauf hin, dass es den Menschen vorrangig um die pragmatische Frage des puren Überlebens gehe. Jedes Regime werde als zumindest besser angesehen als eine existenzbedrohende Unsicherheit. Die Unterstützung einer bestimmten Seite bedeute nicht zwingend eine umfassende Parteinahme, sondern sei oft Ausdruck schieren Überlebenswunsches.

Bell unterstrich die Wichtigkeit davon, in Verhandlungen mit möglichst einer Stimme zu sprechen. Bündnisse von Staaten wie die EU oder die Nato sollten sich möglichst auf eine gemeinsame Position einigen. Besonders positiv wäre, wenn dies auch dem UN-Sicherheitsrat gelänge. Bell war in dieser Hinsicht optimistisch, dass sich auch mit China und Russland zumindest ein Grundkonsens finden lasse. Denn aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen streben China und Russland ebenfalls eine stabile Lage im Land an. Bei Russland komme noch hinzu, dass es keinen Zerfall der ehemaligen Sowjetrepubliken möchte.

Insbesondere durch die Professionalisierung der Taliban in den letzten Jahren, auch in politischer Hinsicht, habe eine solche Verhandlung mit den Taliban durchaus die Möglichkeit, erfolgreich zu sein. Sorgen bereitet Bell allerdings, dass die Taliban möglicherweise von einer Hybris des Sieges getrieben seien und meinen, sie könnten über die Zukunft des Landes einseitig bestimmen und dabei bestimmte Gruppen komplett außen vor lassen. Dass dies nicht funktioniert, dafür habe die Geschichte Afghanistans in den letzten Jahrzehnten mehr als genügend Anschauungsmaterial geliefert.

Was hilft in der humanitären Notlage?

Afghanistan sei, so Stahlmann, in den letzten Jahrzehnten stets ein sehr armes Land gewesen. Die Ereignisse der letzten Monate haben dabei noch eine Eskalation der Verelendung bewirkt. Bereits 2016 hatten 44,6 Prozent der Bevölkerung keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung und 86 Prozent der Stadtbevölkerung lebten in Slums. Im Jahr 2019 waren 78 Prozent der Haushalte auf negative Bewältigungsstrategien angewiesen, um Nahrung zu beschaffen. Dies bedeutet die Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder den Verkauf von Land und Haus. Auch wenn solche Strategien kurzfristig die Not lindern, verschärfen sie auf längere Sicht die Armut noch. Armutshilfe setzt eine Gegenfinanzierung voraus, die aber fehlt: Die Finanzierungslücken sind immens, was auch daran liegt, dass teilweise Gelder der Entwicklungshilfe eingestellt wurden und seit Juli 2021 keine Regierungsgehälter mehr bezahlt wurden. Diese hochangespannte humanitäre Lage werde dazu führen, dass jedes zweite Kind unter fünf Jahren ohne Behandlung gegen Unterernährung stirbt.

Hinsichtlich der Frage, was aktuell getan werden kann, erläuterte Stahlmann bezüglich privater Unterstützung über Spenden etc., dass es zwar aktuell keine ausreichend stabilen administrativen (staatlichen) Strukturen in Afghanistan gebe, über die Geld und Hilfe in Afghanistan zentral verteilt werden kann. Daher verstehe sie die Sorge, dass finanzielle Unterstützung nicht bei den Notleidenden ankommt. Allerdings gebe es viele Wege, auf denen das Geld zielgerichtet in das Land gelangen könne, sowohl über private Kanäle wie auch über Hilfsorganisationen, die Wege kennen, dass Hilfen am richtigen Ort ankommen. Stahlmann verwies auch auf die afghanische Community in Deutschland, die vielfach der Unterstützung bedürfe und wichtige Brückenfunktionen einnehmen könne.

Dies unterstrich auch Bell und verwies darauf, dass von privaten Formen der Unterstützung die Frage zu unterscheiden sei, was Regierungen anderer Staaten in der aktuellen Situation tun können und sollten. Bei finanziellen Zuwendungen sei tatsächlich noch unklar, was mit diesen Mitteln geschieht. Doch gelte es, die Menschen vor Ort zu unterstützen, dafür auch mit den Taliban zu verhandeln und auf der anderen Seite ein Spiel der Taliban nicht einfach mitzuspielen, das die Bevölkerung in Geiselhaft nimmt. Wichtig sei vor allem, dass das Thema überhaupt auf der Agenda beispielsweise der deutschen Politik bleibe.  

„Alles vergebens…?“

Was Versuche angehe, Zukunftsprognosen abzugeben, unterstrich Nassery, dass die gegenwärtigen Entwicklungen noch sehr im Fluss seien. Dies zeige sich bereits daran, dass bestimmte administrative und staatliche Strukturen noch nicht etabliert sind. So sind die Leitungen der Provinzen zum großen Teil noch nicht im Amt oder Ministerien werden als „Übergangsministerien“ angesehen. Dass die Taliban im Jahr 2021 andere Lösungen finden müssen als im Jahr 1996, sei ihnen wohl bewusst. Zugleich stelle sich Afghanistan als ein hoch militarisiertes Land mit vielen Waffen im Privatbesitz dar, was die Gefahr einer Eskalation und eines Bürgerkrieges in greifbare Nähe rücken lasse. Letztlich gehe es aber darum, dass die Afghaninnen und Afghanen selbst eine Lösung für ihr Land finden. Notwendig sei laut Nassery im Besonderen auch eine dringend notwendige ökonomische Weiterentwicklung. Zudem sieht Nassery eine Chance darin, die Taliban als religiöse Gruppierung zu adressieren und auf diese Weise beispielsweise bestimmte Praktiken der Taliban einer Kritik zu unterziehen.

Bell sieht zwar die Chance für Verhandlungen und hält diese auch für dringend notwendig. Doch zugleich warnte er davor, dass sich die momentan noch offenen Fenster und Möglichkeiten der Verhandlung und der Suche von Lösungen auch schließen können. Den richtigen Zeitpunkt wahrzunehmen sei deshalb besonders bedeutend.

Stahlmann brachte ihre Schwierigkeiten damit zum Ausdruck, bisherige Errungenschaften in der afghanischen Zivilgesellschaft nur als „vergebens“ anzusehen. Denn die Entwicklungen der letzten Jahre seien immer auch Lebensleistungen und Lebenskämpfe, die nie umsonst seien, auch wenn sie aktuell keinen Platz im Alltag der Gesellschaft beanspruchen können. Diese mutigen Engagements müssten aber anerkannt werden und nicht zu schnell dürfe Hoffnungslosigkeit die Stelle dieser Erfolge übernehmen.

Dr. Arvid Bell (Harvard)
Arvid Bell (l.o.), Christian Ströbele (m.o.), Idris Nassery (r.o.), Friederike Stahlmann (l.u.) und Konstanze Jüngling (r.u.)
Arvid Bell (l.o.), Christian Ströbele (r.o.), Idris Nassery (l.u.) und Friederike Stahlmann (r.u.)