Gedenken an Opfer der NS-Gewalt

Räume verbinden, Erinnerung verknüpfen

Getötet an verstreuten Orten, begraben ganz woanders. Wie gedenkt man jener NS-Opfer, deren Körper anatomischen Anstalten überlassen worden sind? Wie lässt sich die Erinnerungsarbeit vernetzen?

Von Michaela Kästl und Jonas Metten

Vernetzung soll dabei in doppelter Weise verstanden werden: zum einen im Sinne einer konzeptionellen, kommunikativen wie auch symbolischen Verbindung zwischen den Orten, zum anderen im Sinne einer digitalen Erschließung der Räume. Was ist „Zentrum“, was ist „Peripherie“? Nur ein Vexierbild? Ausgehend vom Tübinger Projekt „Gräberfeld X“  hat sich nun eine Akademie-Tagung in Weingarten mit dieser deutschlandweit wichtigen Frage beschäftigt – und mit der Vernetzung der Akteur:innen. Denn ohne diese, so die erste Einsicht, sind künftige Gedenkarbeit und deren Verstetigung nicht umzusetzen.

1078 Leichname wurden in der Zeit des Nationalsozialismus in die Tübinger Anatomie gebracht und hauptsächlich auf deren Begräbnisplatz am Rande des Stadtfriedhofs beerdigt. Aber die sehr verstreuten Orte, aus denen sie kamen, sind weder untereinander noch mit Tübingen vernetzt. Wer die Verstorbenen waren, wie ihre Namen korrekt lauteten und was die Tübinger Anatomie mit dem NS-Herrschaftssystem verband, das erarbeitet das Forschungsprojekt zum „Gräberfeld X“, das die Ergebnisse auf der Homepage teilt und bereits eine Personendatenbank veröffentlicht hat.

Organisiert von den Mitarbeiter:innen des Gräberfeld X-Projekts und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart bot nun die Tagung in Weingarten die Möglichkeit zum gemeinsamen Nachdenken darüber, wie ein Netzwerk des Gedenkens umgesetzt und auch nach Ablauf des Forschungsprojekts verstetigt werden kann. Im Fokus stand dabei die Verbindung der Herkunftsorte in ganz Württemberg mit dem Tübinger Gräberfeld X. Beteiligt waren Wissenschaftler:innen, Mitarbeiter:innen von Gedenkstätten und zivilgesellschaftliche Akteur:innen aus ganz Deutschland, die praxisnahe Einblicke in ihre eigenen aktuellen Projekte und die damit verbundenen Herausforderungen bei der Konzeption gaben.

Zentren in der Peripherie und Digitalisierung historischer (Tat-)Orte

Wie kann angemessen erinnert werden an zwei Zwangsarbeiter, die an einem Waldrand ermordet wurden? Oder an die Kriegsgefangenen, die auf dem Areal eines heutigen Truppenübungsplatzes gestorben sind? Wie gelingt es, das nötige Hintergrundwissen zum Ort zu vermitteln? Einem solchen Spagat zwischen Zentrum und Peripherie widmete sich beispielsweise Martina Staats in der Vorstellung des Projekts „OutSITE Wolfenbüttel“ . Ziel sei es, 70 dezentrale Außenorte des Strafgefängnisses Wolfenbüttel visuell durch „Erinnerungsfenster“ zu markieren und somit dauerhaft ein umfassendes Netzwerk der Täter:innen und gleichzeitig des Gedenkens sichtbar zu machen.

Das Projekt zum Gräberfeld X sieht sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert: Wenngleich Tübingen – als Standort der Anatomie und als Begräbnisplatz – gegenwärtig das Zentrum von  Erinnerung und Gedenkarbeit zu sein scheint, wurden die NS-Verbrechen nicht dort, sondern an ganz verschiedenen Orten begangen. Diese lagen geografisch oft in der Peripherie; einige sind bis heute nur schwer zugänglich. Beim Vorhaben allerdings, das Netzwerk der NS-Verbrechen abzubilden, nehmen diese Orte eine zentrale Rolle ein.

Die Präsentation mehrerer Gedenkprojekte, bei denen nichts mehr oder lediglich Spuren vom realen, historischen Ort erhalten sind, zeigte, dass und wie digitale Vermittlungsangebote diese Leerstellen füllen können. Petra Haustein betonte in ihrer Vorstellung des Pilotprojekts „Netzwerk Zeitgeschichte“ zum Beispiel, dass für ihr Team die Schaffung von Räumen zum Austausch von Positionen, Wissen und Erfahrung stets auch mit Fragen der Digitalisierung verbunden waren. Angelika Meyer machte sich am Beispiel des Projekts „überLEBENSWEGE“ besonders für digitale Erinnerungswerkstätten und den Einsatz von Social Media in der Gedenkstättenarbeit stark.

Wie vermittelt man historisches Wissen?

Trotz des Potenzials digitaler Angebote waren sich alle Teilnehmenden darüber einig, dass die historischen Orte selbst als Fixpunkte und Wissensquellen geschützt werden müssen. Durch die Kombination mit digitalen Angeboten könnten das historische Wissen sowie die Vernetzung mit anderen Orten dargestellt werden. Zudem werde die Reichweite der Gedenkprojekte vergrößert, wenn das Erinnern nicht nur an den Gedenkstätten selbst stattfindet.

Gerade bei den Überlegungen zu digitaler Erinnerungsarbeit tauchte die Frage nach temporärem und dauerhaftem Gedenken im Verlauf der Tagung immer wieder auf. Doch auch die Installation von einzelnen Gedenksteinen oder -stelen ermöglicht oft kein dauerhaftes, aktives Erinnern an die Menschen und ihre Lebensgeschichten. Außerdem geht mit isolierten Erinnerungsmalen und vereinzelten Aktionen vor Ort kaum Wissensvermittlung einher. Die Verstetigung des Gedenkens ist deshalb ein wichtiger Punkt bei der Konzeption künftigen Erinnerungsarbeit. Die Tagungsbeiträge verdeutlichten, dass dauerhaftes Gedenken nur durch kontinuierliche Begleitung, unterschiedliche Vermittlungsangebote, fortlaufend neue Projekte und professionelle Öffentlichkeitsarbeit möglich ist.

Künftige Erinnerungsarbeit am Gräberfeld X und den Herkunftsorten

Zum Abschluss der Tagung verknüpften die Teilnehmenden in einem partizipativen Workshop die Diskussionsschwerpunkte und Ergebnisse der vorigen beiden Tage konkret mit den Fragen aus dem Gräberfeld X-Projekt. In drei Gruppen wurden Vorschläge für ein vernetztes Gedenken vor Ort und auch im digitalen Raum erarbeitet. Die Erfahrungen und Expertisen aus den verschiedenen Gedenkprojekten wurden so für die spezifischen Anforderungen des Gräberfelds X und der Herkunftsorte der Toten produktiv zusammengeführt.

Einig waren sich dabei alle: Das Gräberfeld X solle vor allem als realer Gedenkort mit lokalem Ortsbezug erhalten und ausgebaut werden; die Erinnerungsarbeit müsse auch nach Ablauf des Projekts beispielsweise durch eine Vereinsgründung in Kooperation mit der Universität und der Stadt Tübingen erhalten werden. Verschiedene Anregungen von mobilen Informationsstationen innerhalb der Stadt Tübingen über einen Lern- und Begegnungsraum im alten Friedhofswärterhäuschen bis hin zu einem Ausbau der digitalen Personendatenbank öffneten den Blick abschließend noch einmal für die zentralen Fragen, die die Teilnehmenden die gesamte Tagung über begleitet hatten:

Wie können verschiedene Orte innerhalb einer Stadt und weit darüber hinaus zu einem Netzwerk des Gedenkens verbunden werden? Welche Rolle kann dabei der digitale Raum spielen? Und wie kann nachhaltiges und dauerhaftes Erinnern gelingen?

 

 

Pausenimpressionen aus dem Tagungshaus, dem barocken Ex-Kloster Weingarten
Plenumssitzung in Weingarten
Die Tagungsleitung bei ihrer Vorbesprechung: Johannes Kuber (Akademie), Stefan Wannenwetsch und Benigna Schönhagen, Universität Tübingen, Projekt Gräberfeld X (von links nach rechts)