| Geschichte und Politik
Zum Umgang mit dem Nahost-Krieg

Rote Linien ziehen, aber wie?

Der Krieg zwischen Hamas und Israel ist auch an den Schulen ein großer Aufreger. Schüler:innen wie Lehrkräfte fühlen sich emotional und pädagogisch nicht selten überfordert. Was kann helfen?

Von Martin Gerner, Autor, Konfliktforscher, freier Dozent

Der Krieg zwischen Hamas und Israel ist auch an den Schulen ein großer Aufreger. In Umfragen und persönlichen Gesprächen zeigt sich: Schüler, Schülerinnen, Lehrkräfte fühlen sich emotional und pädagogisch nicht selten überfordert. Hinzu kommen Vorurteile, Diskrimierung und Hassgefühle, die sich auf dem Pausenhof auch durchaus laut bemerkbar machen. Islamisch-palästinensische Fluchtgeschichten, jüdische Holocaust-Erfahrungen und der Mangel an Sachwissen bei einer verunsicherten Mehrheit treffen dabei aufeinander.

Welche Erfahrungen machen Lehrer und Pädagogen zum Thema 7. Oktober an den Schulen? Wie können und sollen Lehrer damit umgehen? Wie lassen sich Emotionen und Betroffenheit auffangen und kanalisieren? Wie kann man die täglich auf Bildschirmen und in Social Media ablaufenden Ereignisse angemessen thematisieren: die Bilder und das, was sie auslösen? Was sagen Betroffene und Expert:innen dazu? Was meinen  Schulsozialarbeiter und Pädagogen zu Thesen wie: „Emotionen nach dem 7. Oktober haben in der Schule keinen Platz.“ Oder Aussagen wie: „Weinen ist ein politischer Akt.“ Oder: „Emotionen machen vernünftige Urteile unmöglich.“

Gottfried Kößler, ehemaliger stellvertretender Direktor des Fritz-Bauer-Instituts an der Uni Frankfurt und Lehrer für Geschichte, Politik und Deutsch, meint, die Herausforderung für Lehrkräfte sei schwierig wie selten. Emotionen zu thematisieren sei zugleich nicht der Zweck des Umgangs mit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober.

„Emotionen sind derzeit der Auslöser für alles. Die Jugendlichen kommen mit Emotionen in die Klasse, die Erzählungen oder Medien bei ihnen ausgelöst haben. Oft kennen sie die Fakten nicht. Und die Lehrer? Sie vermögen das Gespräch nicht zu steuern. Deshalb müssen sie lernen, Emotionen der Schüler, aber auch ihre eigenen, wahrzunehmen und zuzulassen. Das ist das Schwierigste von allem: denn unter Umständen muss die Lehrkraft zulassen, was sie persönlich vielleicht selbst ablehnt.“

Es fehlt an Sachwissen

Auf deutschen Lehrplänen spielt schon der jahrzehntelange Nahostkonflikt in der Regel keine Rolle. Dabei ist er älter als der Zweite Weltkrieg, so alt wie Imperialismus und Kolonialisierung. Die Mehrheit der Lehrkräfte, so Kößler, sei zudem nicht vorbereitet auf die Flut an Bildern, Informationen und Fake-News, die täglich zum brandaktuellen Kriegsgeschehen über Erwachsene und Schülerschaft hereinbrechen: „Die Lehrer schaffen es unmöglich, das im Nu zu lösen. Ehrlicherweise muss man sagen: Die Lehrerausbildung ist immer noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts befangen und nicht fähig, pädagogische Prozesse zu steuern. Schon gar nicht konfliktbeladene Prozesse, die nicht in den Curricula vorkommen.“

Hilft es, Rote Linien zu ziehen und damit Grenzen zu setzen? Kann man damit Schülern zeigen, wo, wie und warum polarisierte, dämonisierende Bild- und Text-Narrative das Erlaubte überschreiten? Was darf nicht mehr gesagt werden? Und wer legt das fest?

„Bei vielen Worten erkenne ich, was die einen oder anderen meinen, aber man spricht es nicht klar aus. Ich glaube auch, dass wir im Dialog Tabus brauchen, die als Grenzen wirken“, sagt Sabena Donath, Direktorin der Bildungsabteilung beim Zentralrat der Juden in Deutschland.

Sie schaut von Berufs wegen täglich zahlreiche Bilder im Kontext des 7.Oktober an, mehr als viele sich zumuten würden. „Was ist unsagbar? Und was müssen die Betroffenen sich trauen, mir nach Möglichkeit zu sagen? Was kann im Lehrerkollegium besprochen werden und was nicht? Das würde helfen, damit man künftig Verschwörungstheorien trennen kann von Betroffenheitsperspektiven, die ihre Berechtigung haben, und wo persönlicher Schmerz diskutiert werden kann. Daher muss man über Rote Linien sprechen. Das vermisse ich sehr. Und die Lehrer müssen da gestützt werden.“

„Jetzt geht es um Vernichtung“

Fast körperlich spürbar ist bei vielen Lehrkräften und Pädagogen in dieser Debatte der Wunsch nach anerkannten Autoritäten, die Konsens und Lösungswege vorgeben. Die aber gibt es bislang nicht. Denn so etwas wie der 7.Oktober sei noch nie dagewesen, so Sabena Donath: „Der 7. Oktober ist ein besonderer Einschnitt für die jüdische Geschichte. Er hat Ähnlichkeiten zum Holocaust. Die Methoden, die angewandt wurden, etwa. Die bestialische Gewalt trug Züge eines Pogroms, schlimmer noch. Und mit Absicht. Die folgenden Protestwellen waren Deckmantel für eine große antisemitische Haltung und Vernichtungsrhethorik, anders als in den bewaffneten Auseinandersetzungen früher. Jetzt geht es um Vernichtung.“

Donath schwebt zur Behebung von Unwissen und zur besserer Vorbereitung auf Fragen der Schülerschaft ein neues Fach vor: Demokratie-Erziehung. Außerdem und als Teil davon: mehr Nahost-Faktenwissen. Am besten schon zu Anfang des Lehramt-Studiums, oder noch davor. Ein dickes Brett. Wie aber können Lehrer zeitnah Empathie für die Gegenseite und ihr Schicksal wecken? Für Nicole Broder, Leiterin der Politischen Bildung an der Frankfurter BildungstätteAnne Frank, gibt es eine Grauzone, die dabei benannt werden muss: „Was für den einen legitime Kritik ist, ist für den anderen schon antisemitisch. Dabei muss man lernen, die unterschiedliche Antworten auszuhalten. Es gibt eben nicht immer klare Antworten auf alle Fragen. Es ist immer ein Ringen. Man muss  dabei genau benennen, wo kein Konsens ist und wer spricht, und aus welcher Perspektive.“

Als entscheidenden Punkt sieht Broder die Schlacht um die Deutungshoheit in den Medien. „Der Zugang zu den Social Media ist entscheidend. Wir müssen als Gesellschaft  dort sein, wo junge Menschen sich virtuell aufhalten. Social Media sind nicht des Teufels. Wir müssen vielmehr Gegen-Narrative finden und uns auf den Medien-Gebrauch der Jüngeren mehr einlassen. Wie bei klassischen Leitmedien. Da gibt es noch viel zu tun.“

Schule da, Social Media dort

Beispiel Rütli-Schule in Berlin. Eine Gemeinschaftsschule, an der sehr viele Kinder einen muslimisch-arabischen Hintergrund haben. Dort unterrichtet Mehmet Can als Geschichts- und Politiklehrer. Die Schule ist mit dem Nahost-Konflikt vertraut. Es gibt eine Stunde „Glauben und Zweifeln”, es gibt Arabisch-Unterricht, bis vor kurzem auch Fahrten nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Can hat mit Eltern palästinensischer und islamischer Schüler:innen zu tun. Das Alter spiele dabei auch eine Rolle:„Ich würde sagen: viele in der Schülerschaft wollen zwar nicht, dass Menschen sterben. Aber die Emotionalität der Bilder ist sehr herausfordernd für sie. Vor allem, wenn die Kinder und Jugendlichen in der Pubertät sind. Ich meine vor allem solche aus der Sekundarstufe I. In der Sekundarstufe II, bei den höheren Klassen, kann man als Lehrer etwas einfacher auf die Sachebene kommen. Aber auch das bleibt zur Zeit oft schwierig.“

Eine besondere Herausforderung dabei sind Äußerungen von Hass. Etwa wenn Schüler andere Schüler in Social Media und Messengern diskriminieren, direkt zu Hass anstacheln  – ohne, dass die Lehrkräfte diesen Dialog in den Social Media zeitnah beeinflussen können. Dann entstehen schulische Parallelwelten, die das Potenzial für Gewalt haben. „Die Schülerschaft, mit der ich zu tun habe, hat auch mit Verklärung des 7.Oktober zu tun. Oft aus Mangel an Empathie. Wir dürfen uns daher nicht in Detailfragen verlieren – also: ,Wer hat was gemacht?‘ Sondern mir geht es darum, die Unversehrtheit menschlichen Lebens ganz allgemein als Konsens zu betonen“, so Mehmet Can.

Wenn Rituale als aufgezwungen erlebt werden

Das gelingt nicht immer. Wie ohnmächtig, zum Teil überfordert Lehrkräfte im aktuellen Kontext sein können, zeigt sich bei den Schweigeminuten aus Anlass des 7. Oktober. Es gab diese bereits in einer Reihe von Bundesländern. „Die Schweigeminute“, meint Gottfried Kößler, „ist wirklich sinnlos, wenn es nicht einen Inhalt gibt, der vorher vermittelt worden ist. Die Schweigeminute ist ein Ritual. Ich brauche daher eine Beziehung, um zu verstehen, was konkret betrauert wird. Wenn ich das nicht habe, ist es ein aufgezwungenes Ritual, das sein Ziel verfehlt.“

Rituale kommen hier an eine Grenze, selbst wenn sie Teil der Erinnerungskultur sind und von offizieller Seite der „Staatsräson“ gegenüber Israel zugerechnet werden. Das macht umso skeptischer, als viele Bemühungen von Institutionen und sie tragenden Personen in jenem 7. Oktober einen Bruch erkennen, von dem sie nicht wissen, ob er jemals wieder heilbar ist. Sabena Donath habe konkret gelitten, erzählt sie: „Ich stehe jetzt vor den Scherben meiner Arbeit. Ich habe zwanzig Jahre lang versucht, in Deutschland Judentum und Nahost zu erklären. Ich verstehe die Gefühle von Schülern und Schülerinnen. Was ich nicht verstehe, ist die mangelnde Empathie meiner nichtjüdischen Mitbürger, die sich nicht melden oder die relativieren.“

Wegschauen. Relativieren. Was ist antisemitisch? Wann der richtige Zeitpunkt für Worte? Am Ende bleibt jeder Lehrer selber aufgerufen, im Klassenraum Gespräch und Emotionen auszuloten und sich dafür ein Handwerkszeug zuzulegen. Eine Herausforderung, aber auch eine Chance – ohne gleich zu verurteilen. Die ultima ratio für Lehrer, meint Gottfried Kößler, bestehe jedenfalls nicht darin, die Polizei oder einen Anwalt zu rufen: „Als Lehrer muss ich mir klar werden, ob ich mit einer Äußerung ihre Strafbarkeit durchsetzen will oder nicht. Oder ob es mir wichtig ist, im Gespräch zu bleiben mit der Schulgruppe. Wenn ich im Extremfall sage: ,Schluss, ich hole die Polizei‘ – dann ist der pädagogische Prozess sofort beendet. Und das wäre nicht meine Absicht als Lehrer."

Rote Linien ziehen – das klingt gut. Wie ein Stift, mit dem man eine Grenze markiert. So einfach geht es aber nicht. Das dämmert Lehrkräften und Pädagogen, die deshalb in der Krise den Austausch unter Kolleg:innen suchen, bei Fachleuten auch, und die sich ein größeres Angebot an Fortbildungen wünschen – damit es sie in die Lage versetzt, mit dem Nachwuchs an unseren Schulen angemessen zum aktuellen Kriegsgeschehen umzugehen.
 

Thesen zum 7.Oktober im Schulunterricht: Stoffsammlung bei einem Workshop der Bildungstätte Anne Frank, Frankfurt, Dezember 2023