| Newsletter 2024 Aug-Sept
Transformation der Religionen

Ultranationalismus und Ultrareligiosität

Chancen und Aufgaben der Religionen, wenn die moderne Ordnung von Religion und Gesellschaft zerfällt. Und: Ehrung für Nachwuchswissenschaftler:innen.

Von Christian Ströbele

Warum erfolgt in den europäischen Gesellschaften eine diskursive Zuspitzung, die extremistischen Islamdeutungen einen ungewöhnlichen Entfaltungsraum bietet? Und wieso öffnen sich zeitgleich in westlichen Öffentlichkeiten Räume für extremistische, völkische Nationalismen? Wie lässt sich diesen Entwicklungen begegnen, und welche Rolle kommt dabei dem interreligiösen Dialog zu?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Abendveranstaltung Transformation der Religionen am 27. Juni 2024. Den Festvortrag hielt der renommierte Islamwissenschaftler Prof. em. Dr. Reinhard Schulze. Im Anschluss wurden die Preisträger:innen des Essaywettbewerbs der Georges-Anawati-Stiftung vorgestellt.

Ihre Beiträge setzten sich auf ganz unterschiedliche Weise mit den Potentialen und Herausforderungen interreligiöser Beziehungen auseinander. Diese Essays waren hervorgegangen aus der Christlich-Islamischen Studienwoche, die die Akademie gemeinsam mit der Eugen-Biser-Stiftung ausrichtet. Seit mehr als zwei Jahrzehnten führt die Studienwoche christliche und muslimische Nachwuchswissenschaftler:innen für einen interreligiösen und interdisziplinären Austausch zusammen.

Die neue Ordnung: Verabsolutierungen und Autoritarismus

Im Mittelpunkt des Festvortrags von Reinhard Schulze stand die These einer Erosion der modernen normativen Ordnung von Religion und Gesellschaft. Religionen drohten demnach ihre Integrationskraft und Plausibilität zu verlieren – ein Prozess, der sich am Terror vom 11. September 2001 illustrieren lasse: Dieser sei Indikator für eine neuartige Strömung im Islam, die sich außerhalb der nationalstaatlichen Ordnung positioniere. Zur Analyse dieser Entwicklung führte Schulze den Begriff der „Ultrareligiosität“ ein: Ultrareligiös seien demnach Vorstellungswelten, die das Religiöse verabsolutieren, radikalisieren und jenseits („ultra“) der modernen Ordnung von Religion und Säkularität stellen. In fundamentaler Opposition zum Staat und zur säkularen Gesellschaft schaffe sich die Ultrareligiosität eine neue, mit der islamischen Tradition kaum verbundene „Orthodoxie“.

Schulze parallelisierte dieses Phänomen mit dem „Ultranationalismus“, der den ideologischen Kern der Nation in ähnlicher Weise verabsolutiere. Auch hier konstituiere sich eine Ordnung jenseits des politischen und gesellschaftlichen Spektrums, verbunden mit einem radikalen Autoritarismus. Beide „Ultraismen“ verstehe man am besten als Folge eines tiefgreifenden Wandels der Moderne, der zur Auflösung der Polarität von Religion und Gesellschaft führe.

Historisch rekonstruierte Prof. Schulze die Entstehung dieser dualen Ordnung in der Neuzeit: Religion und Welt wurden zu komplementären, wechselseitig aufeinander angewiesenen Sphären. In der Krise drohe dieses Verhältnis zu zerbrechen. Indiz dafür sei, dass Religionsgemeinschaften zunehmend die Beziehung zu ihrer „Umwelt“ aufkündigten.

Um dem „Scheitern der Religion“ zu begegnen, gelte es, deren Integrationskraft zu erneuern. Der Autoritätsverlust, der ultrareligiösen Strömungen Vorschub leiste, müsse durch eine Neudefinition religiöser Autorität kompensiert werden. Doch letztlich werde man eine „postreligiöse Situation“ nicht verhindern können. Die Frage sei, wie eine solche Transformation verträglich gestaltet werden könne.

Im Anschluss würdigte Professor Harald Suermann vom Wissenschaftlichen Beirat der Georges-Anawati-Stiftung die prämierten Essays.

Die Preisträger:innen und ihre Arbeiten

Den dritten Platz belegte Bera Elyesa Topkara mit einem Essay über die „Convivencia“ im mittelalterlichen Spanien als Modell für das heutige Europa. Er analysierte das weitgehend friedliche Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden vor der Reconquista, das zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung führte. Im Gegensatz dazu habe das spätere Streben nach religiöser Homogenität Vertreibungen und Konflikte ausgelöst. Topkara warnte davor, heutige Narrative auf die Vergangenheit zu projizieren und stellte die Frage, inwieweit eine „rechtskulturelle Integration“ des Islam in Europa möglich sei. Als Vorbild sah er die EU als multireligiöse, auf gemeinsamen Werten basierende Gemeinschaft.

Der zweite Platz ging an Hanna Morlock und Randa Abd Ulla. Morlock untersuchte „Mystik als Widerstand“ und Grundlage interreligiöser Verbundenheit. Ausgangspunkt war Dorothee Sölles Konzept einer „Mystik des Widerstands“, die eine Gemeinschaft mit Gott und den Leidenden stifte. Dies sei nicht auf Christen begrenzt. Am Beispiel der ägyptischen Künstlerin Bahia Shehab zeigte sie, wie ästhetische Erfahrungen Menschen über alle Grenzen hinweg verbinden können – nicht durch dogmatische Sätze, sondern als geteilte Lebenshaltung.

Abd Ulla schlug in ihrem Essay „The Modern House of Wisdom“ einen nach dem Vorbild des Bagdader „Haus der Weisheit“ gestalteten interreligiösen Lernort vor. Auf diese Weise könnten die oft konfliktreichen Beziehungen zwischen Muslimen und Christen verbessert werden. Als Säulen des dort praktizierten Dialogs nannte sie u.a. Anerkennung der eigenen Identität, Schaffung sicherer Räume, Respekt für die Würde aller sowie den Kampf gegen Islamophobie. Dies könne entscheidend zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen.

Den ersten Platz belegte Jana Viktoria Behrens mit einer empirischen Untersuchung zu Gebetsgesten verschiedener Religionen. In Interviews mit Teilnehmern der Studienwoche erkundete sie deren Bedeutung und Funktion. Häufig genannt wurden die Konzentration auf das Gebet oder die leibliche Strukturierung des Gebetsraums. Die Frage nach der „Lieblingsgebetsgeste“ führte oft zu intensiven Gesprächen, in denen individuelle Religiosität zum Ausdruck kam. Behrens betonte, dass Muslime wie Christen zwar unterschiedliche Gesten praktizierten, diese aber oft ähnliche Funktionen hätten. Ihre Methode sah sie als Anstoß für einen fragenden, nicht wertenden interreligiösen Dialog.

Lesen Sie gerne weiter auf der Seite des Theologischen Forums Christentum – Islam. Dort finden Sie auch die preisgekrönten Essays im Volltext.