| Hagiographische Fragen
Vielschichtige Heilige

Vielschichtige Heilige

Maria als Conquistadora und Sebastian als Faszinationspunkt homoerotischer Kultur: Heilige sind gesellschaftliche und religiöse Leitbilder, zugleich aber auch wandelbare Projektionsflächen.

von Lara Schwanitz (Köln)

1994 gründeten der Historiker Klaus Herbers (Erlangen-Nürnberg) und Dieter Bauer, an der Akademie damals Leiter des  Fachbereichs Geschichte, den Arbeitskreis für hagiographische Fragen. Sein 30jähriges Bestehen beging der AK im April 2024 mit einer interdisziplinären Tagung im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim. Das Erzählen von Heiligen präsentierte sich in der Gesamtschau der Vorträge in seiner großen Vielfalt und methodischen Vielschichtigkeit. Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchungen waren gleichermaßen Texte aller Art – darunter Predigten, Mirakel, Viten und Randglossierungen –, dazu Bilder, Objekte und Praktiken sowie eine Vielzahl mit diesen Medien verbundener Funktionen.

Am Beispiel des Landgrafenpsalters (Stuttgart, WLB, HB II 24) führte Julia Weitbrecht (Köln) einleitend diese Pluralität vor Augen. Die kostbare Bilderhandschrift aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts enthält nicht nur die Psalmen in lateinischer Sprache, sondern auch einen Heiligenkalender mit jahreszeiten-spezifischen Darstellungen landwirtschaftlicher Arbeiten sowie Miniaturen unter anderem des thüringischen Landgrafenpaares Hermann und Sophie von Thüringen sowie des ungarischen Königspaares Andreas II. und Gertrud von Andechs, der Eltern der Heiligen Elisabeth von Thüringen (siehe Abbildung). Der Blick auf diese Handschrift brachte so exemplarisch zur Anschauung, dass hagiographisches Erzählen religiöse Praktiken, politische Interessen und alltagsweltliche Bezüge miteinander verwebt.

Maria als herrschaftspolitische Ressource...

In diesem Sinne einte die Vorträge der Tagung zwar der Befund, dass das hagiographische Erzählen darauf zielt, Heilige als gesellschaftliche und religiöse Leitbilder zu etablieren. Gleichzeitig allerdings arbeiteten die Vorträge eine Reihe weiterer Funktionen des hagiographischen Erzählens und der Heiligenverehrung heraus. So stellte Nina Nowakowski (Magdeburg/Mainz) eine umfangreiche Sammlung von über 260 Marienmirakeln vor, die vermittelte menschliche Heilserfahrungen thematisieren. In Serie erzählen diese Mirakel von konkreten Wunderhandlungen Marias, eingefasst in alltagsgeschichtliche Rahmungen. Diese Art des Erzählens, so Nowakowski, rücke die Heiligen und deren Wundertaten ganz nah an die Lebenswelt der Rezipient:innen heran: Heil, das unterstrichen die Mirakel wieder und wieder, sei in der Welt durch konkrete Handlungen der Heiligen erfahrbar.

In eine andere Richtung bezüglich der Funktionalisierung Marias wies der Vortrag von Marina Münkler und Antje Sablotny (Dresden). Sie untersuchten die Transformationen des Erzählens über Maria im 16. Jahrhundert. Für Maria als Spitzenheilige und Heilsbringerin mit dem exzeptionellen Status der Gottesgebärerin stelle sich in besonderer Weise die Frage, wie der Heiligkeit von Maria auf der einen Seite im Rahmen der Kolonisierung und der Christianisierung Amerikas zugearbeitet werde, wie auf der anderen Seite die reformatorischen Diskurse (im Kontext der vielfältigen Invektiven gegen den Heiligenkult) die Bedeutung Marias im Rahmen von Heilsvermittlungsprozessen abstritten. Maria – so schlussfolgerten Münkler und Sablotny – werde im 16. Jahrhundert als kirchen- und herrschaftspolitische Ressource instrumentalisiert.

...und Heilige mit subversivem Potential

Nicolas Detering (Bern) richtete in seinem Vortrag den Blick auf die Moderne. Ausgehend von der immensen Produktion von Texten und Kunstobjekten zeichnete er für die bürgerliche Kultur Verschränkungen und Konfrontationen nach, denen hagiographisches Erzählen vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt war. Heilige – so zeigte sich hier – vereinten verschiedene Alteritäten in sich, so dass sie für eine mehrdeutige Aufladung nutzbar gemacht wurden: als Kontrastfigur für eine Selbstvergewisserung einerseits und als kritische Spiegelfläche mit subversivem Potential andererseits.

Ein Beispiel für diese produktive Auseinandersetzung mit Heiligen ist der frühchristliche Bekenner und Märtyrer Sebastian. Fast nackt, von Pfeilen durchbohrt und blutüberströmt erduldet Sebastian seine Folter und die öffentliche Zurschaustellung seines Leides und seines Todes. 

Das Sujet des Martyriums, dem Sebastian in der Folge seines Bekenntnisses zum Christentum ausgesetzt war, verletzt zum einen die den Körper betreffenden Schicklichkeitsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Passivität und Hingabe negieren zudem die Idealbiographie des bürgerlichen Subjekts, das sich zur Selbstverwirklichung aufgefordert sieht. In der Weiterführung entfaltet diese Haltung der Hingabe und der Abwendung von den Maßstäben der dekadenten und fehlgeleiteten Mehrheitsgesellschaft eine subversive Wirkung. Vor allem Künstler wie Elisar von Kupffer, der im Selbstporträt den Heiligen Sebastian als Chiffre für Homosexualität etablierte, stellen heilige Figuren als Faszinationstypen dar, um Diskurse der sozialen und sexuellen Devianz zu gestalten. Heilige – so zeigte sich im Vortrag – vereinten verschiedene Alteritäten in sich, so dass sie für mehrdeutige Aufladung nutzbar gemacht wurden: als Kontrastfigur für eine Selbstvergewisserung einerseits und als kritische Spiegelfläche mit subversiven Potential andererseits.

Sachsen und Heilige

Die umfassende Auswertung der Materialität ist auch nach vielen Jahrzehnten interdisziplinärer Forschung noch nicht abgeschlossen und verspricht nach wie vor wertvolle, auch revidierende Erkenntnisse über die Lebenswelt der mittelalterlichen Gesellschaft. Beispielgebend war diesbezüglich der öffentliche Festvortrag von Hedwig Röckelein (Göttingen). Sie präsentierte zum Abschluss der Tagung eine Bilanz ihrer langjährigen Beschäftigung mit der Heiligenverehrung, insbesondere zum Verhältnis der Sachsen zu Hagiographie und Heiligenverehrung im Rahmen der frühmittelalterlichen Eroberung durch die Karolinger. Ein umfassender Blick auf die Materialität der religiösen Kultur – in ihrer Argumentation kam archäologischen Funden wie Fibeln eine große Bedeutung zu, ebenso der Burse von Enger – liefere neue Antworten auf die Frage, welche Rolle Heilige vor der Christianisierung durch die Karolinger in Sachsen spielten. Hagiographie, so die Synthese, prägte das Selbstbild der Sachsen. Gleichzeitig entwarf das hagiographische Erzählen ein Fremdbild, das die Gewalt der Karolinger nachträglich legitimieren sollte.

Insgesamt konnte die Tagung einen interdisziplinären Austausch gestalten, in dem aktuelle Themen der hagiographischen Forschung an Profil gewannen und gleichzeitig etablierte Fragestellungen in den Diskussionen Beachtung fanden. Die Vorträge gaben zusammengenommen einen Einblick in die immense und vielfältige Text- und Objektproduktion hagiographischen Erzählens, die für Aktualisierungen stets offen war und ist. In diesem Sinne wurde in der Abschlussdiskussion auch über die Perspektiven des Arbeitskreises zu weiterer interdisziplinärer und internationaler Öffnung der hagiographischen Forschung nachgedacht sowie die Erweiterung der Perspektiven auf Moderne und Gegenwart angeregt.

Vortrag von Marina Münkler und Antje Sablotny
Vortrag von Marina Münkler und Antje Sablotny
Round Table „30 Jahre Arbeitskreis für hagiographische Fragen“ mit Cordelia Hess (Greifswald), Elke Koch (Berlin) und Hedwig Röckelein (Göttingen), moderiert vom AK-Mitgründer Klaus Herbers
Round Table „30 Jahre Arbeitskreis für hagiographische Fragen“ mit Cordelia Hess (Greifswald), Elke Koch (Berlin) und Hedwig Röckelein (Göttingen), moderiert vom AK-Mitgründer Klaus Herbers
Beim Vortrag von Hedwig Röckelein
Beim Vortrag von Hedwig Röckelein
Das ungarische Königspaar Andreas II. und Gertrud von Andechs, aus dem Landgrafenpsalter.
Das ungarische Königspaar Andreas II. und Gertrud von Andechs, aus dem Landgrafenpsalter.