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Interkultureller Dialog

Vom Dialog zum Polylog

Viele Begegnungen über die Kontinente hinweg sind durch Machtgefälle geprägt. Lässt sich das – hier am Beispiel Lateinamerika – durch „Kritische Interkulturalität“ überwinden?

Von Heike Wagner

Interkulturelle Begegnungen gab es schon immer. Sie sind in vielerlei Hinsicht eine Selbstverständlichkeit innerhalb, zwischen und jenseits von Gesellschaften. Wie Interkulturalität und interkulturelle Dialoge jedoch gelebt werden, ist nicht aus sich heraus schon gerechtfertigt und richtig. Es bedarf vielmehr der Kriterien und der (Selbst-)Reflexion.

Viele interkulturelle Begegnungen und Dialoge sind durch ein Machtgefälle geprägt, und auch das ansonsten befreiende Projekt der Aufklärung, das die Menschlichkeit ins Zentrum stellen wollte, sprach paradoxerweise Menschen jenseits von Europa wie z.B. in Lateinamerika und Afrika die Menschlichkeit und/oder das Denken oft ab. Andere Kulturen wurden dabei westlichen Projekten und Denkformen zu- bzw. untergeordnet. Bis heute sind bestehende Herrschaftsverhältnisse dadurch geprägt – auch im akademischen Umfeld.

Ist Interkulturalität daher aufgrund der Macht-Asymmetrien gescheitert, gar unmöglich? Nein, schreiben Dr. Heike Wagner und Dr. David Cortez in ihrem Beitrag im Band Polylog als Aufklärung? Interkulturell-philosophische Impulse [1], einer Festschrift zum 80. Geburtstag des großen interkulturellen Philosophen Prof. Dr. Franz Wimmer.

Franz Wimmer prägte den Begriff des „Polylogs“: ein Versuch, aus verschiedenen Kontexten und Quellen heraus, mit verschiedenen Stimmen und somit letztlich über die Beschränkungen des Eurozentrismus hinaus zu denken. In Lateinamerika, so Cortez und Wagner in ihrem Beitrag [2], findet sich mit der Kritischen Interkulturalität ein Ansatz, der noch weiter geht und im Rückgriff auf das kritische, befreiende und ermächtigende Potential der Aufklärung gegen die Aufklärung und über diese hinaus geht. Dies betrifft einerseits Fragen von Macht und somit das notwendige Wahrnehmen, dass auch anderswo wichtige Denkansätze und Lösungen für die heutigen großen Herausforderungen liegen. Es betrifft aber auch die Inhalte selbst:

Es geht um Entkolonialisierung und eine dekoloniale Wende, um Plurinationalität und das Zusammenleben in Vielfalt; es geht um die Überwindung des Gegensatzes Natur-Mensch/Kultur und damit verbunden der Problematik des Anthropozentrismus und des Androzentrismus, also auch um Geschlechterfragen. Letztlich geht es auch um die Frage nach Vernunft und scheinbaren Eindeutigkeiten, die sich im Prinzip eines Pluriversums als des philosophischen Prinzips eines Weltdialogs zwischen verschiedenen philosophischen Traditionen nicht notwendigerweise in ein universales Universum einfügen lassen.

Die lateinamerikanischen Debatten zur kritischen Interkulturalität zeigen einige der Defizite des Projektes der Aufklärung: Kolonialität, Anthropozentrismus, Natur-Mensch-Beziehung, Androzentrismus und Geschlecht. Der Beitrag dieser Ansätze besteht darin, die Selbstkritik der interkulturellen Philosophie zu radikalisieren und deren aufklärerische Grundfesten sowie Voraussetzungen auf den Prüfstand zu stellen. In diesem Sinne gehen sie mit Wimmer „mit der Aufklärung über die Aufklärung hinaus“.

Interkulturalität im Geiste der Aufklärung ist somit nicht gescheitert; interkulturelle Polyloge sind mehr denn je notwendig, um die aktuellen großen Fragen unserer Zeit anzugehen und Lösungen aus den vielen Ansätzen von Theorie und Praxis heraus zu finden. Die Welt steht vor grundlegenden Transformationen und großen Herausforderungen. Sich über Grenzen hinweg zuzuhören und sich dabei auch selbstkritisch herausfordern zu lassen, zu lernen, offen zu sein, ist das Gebot der Stunde und auch Ansatz für die Arbeit des Fachbereichs Internationale Beziehungen an der Akademie. Wimmer stellt folgende Regel auf, die auch für die Arbeit des Fachbereichs gilt: Halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren. [3]

 


[1] Franz Gmainer-Pranzl, Lara Hofner (Hg.): Polylog als Aufklärung? Interkulturell-philosophische Impulse. Wien: facultas 2023.

[2] David Cortez, Heike Wagner (2023) Kritische Interkulturalität in Lateinamerika: Im Rückgriff auf die Aufklärung gegen die Aufklärung?, in: Franz Gmainer-Pranzl, Lara Hofner (Hg.): Polylog als Aufklärung? Interkulturell-philosophische Impulse. Wien: facultas.

[3]https://them.polylog.org/1/fwf-de.htm

Heike Wagner und David Cortez