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Sommerakademie

Vom Fort-Sein und vom Dort-Sein

Rund 45 Personen setzten sich bei der Sommerakademie „Immer auf Achse?“ mit der „Geschichte und Zukunft des Reisens“ auseinander und bereisten in Exkursionen auch das Montafon.

Von: Johannes Kuber

Welche Rolle spielt das Reisen und insbesondere der Tourismus für den Menschen und die Gesellschaft? Wieso reisen wir, und was macht das mit den Reisenden, den Bereisten, der Umwelt und der Gesellschaft? Diesen Fragen näherte sich die vom Fachbereich Geschichte organisierte Sommerakademie in Weingarten aus den verschiedensten Blickwinkeln.

Individual- oder Massentourismus?

Nach der inhaltlichen Einführung durch Fachbereichsleiter Johannes Kuber warf die Wiener Anthropologin Ingrid Thurner in einem Überblicksvortrag verschiedene Schlaglichter auf historische, soziologische, anthropologische und linguistische Aspekte des Reisens. Besonders die angesprochene Dialektik zwischen Individual- und Massentourismus sowie der „touristische Blick“ der Reisenden (und der Bereisten), der maßgeblich zur Konstruktion von Wunschdestinationen beitrage, kamen im Lauf der Veranstaltung immer wieder zur Sprache. Der Esslinger Philosoph Peter Vollbrecht stellte dem nur negativ definierten „Fort-Sein“ die Alternative des bewussten „Dort-Seins“ entgegen, das erst echte Begegnungen zulasse. Angesichts von Klimawandel und Artensterben, Pandemie und Ressourcenknappheit plädierte er für ein entschleunigtes, „weltliebendes“ und ressourcenschonendes, also auch verzichtendes, Reisen. Der Aachener Historiker und Geschichtsdidaktiker Christian Kuchler widmete sich einer besonderen Form des Reisens, nämlich dem Geschichtstourismus und insbesondere der Gedenkstättenfahrt, deren Chancen und Risiken er anhand schulischer Bildungsreisen nach Auschwitz untersuchte.

Touristische Blicke auf das Eigene und das Fremde

Mit historischen Aspekten des Reisens befassten sich mehrere Referent:innen. So zeichnete der Historiker Wolfgang Treue (Duisburg-Essen) anhand frühneuzeitlicher Reiseberichte nach, welche Bedeutung modische und sprachliche Anpassung oder Abgrenzung durch Reisende schon damals hatten. Die Wiener Kulturanthropologin Gabriele Habinger verdeutliche an vielen Beispielen die enge historische Verflechtung von Forschungsreisen und Kolonialismus und die hierarchisch-asymmetrische Prägung des Tourismus. Bei unserer Suche nach dem Unbekannten gehe es immer auch darum, eine Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden herzustellen. Das wurde ebenso in ihrem reich illustrierten Abendvortrag zur Geschichte der Frauenreisen immer wieder deutlich. Einen innovativen methodischen Ansatz verfolgte die Berliner Kulturwissenschaftlerin Gerlinde Irmscher: Sie nutzte die archivalisch überlieferten umfangreichen Reise-Dokumentationen einer „typischen“ Touristin, um an einem Einzelbeispiel die Entwicklung des Massentourismus im 20. Jahrhundert zu veranschaulichen.

„Overtourism“ und Nachhaltigkeit

Doch auch Gegenwart und Zukunft des Reisens kamen nicht zu kurz. Die Freiburger Literaturwissenschaftlerin Anna Karina Sennefelder warf einen kritischen Blick auf den Boom möglichst „authentischer“ filmischer Reisedokus und argumentierte, die durch die Sozialen Medien veränderte, partizipative Kommunikationskultur begünstige das immergleiche Narrativ des „Sich-selbst-Findens“ der Reisenden. Am Beispiel des Südkaukasus machte der Gießener Geograph Sascha Valentin auf die aktuellen Auswirkungen des „Overtourism“ aufmerksam. Franziska Maliske, Referentin für Tourismus im baden-württembergischen Wirtschaftsministerium, gewährte schließlich Einblicke in die Bemühungen, den Tourismus im Ländle zum Beispiel durch Zertifizierungsprogramme nachhaltiger zu gestalten.

Staatsbesuche und Zimmerreisen

Die Vorträge des letzten Tages erlaubten noch einmal ganz neue Blicke auf das Phänomen des Reisens. Der Historiker Joachim Brüser, Mitarbeiter im Protokoll der baden-württembergischen Landesregierung, blickte aus historischer und gegenwärtiger Perspektive auf eine besondere Reiseform, nämlich auf Staatsbesuche in Baden-Württemberg und deren ganz praktische Umsetzung inklusive Wagenkolonne, Gastgeschenk und Sitzordnung. Bernd Stiegler, Literaturwissenschaftler in Konstanz, stellte in einem amüsanten Vortrag das besondere literarische Genre der Zimmerreise vor und gab Einblicke in seine eigenen literarischen Versuche während des Lockdowns. Zum krönenden Abschluss der Sommerakademie sprach Ilonka Czerny, Fachbereichsleiterin Kunst an der Akademie, in einem reich bebilderten Vortrag  über reisende Bilder sowie Aus- und Fortbildungsreisen von Künstlern des Mittelalters bis zur modernen Kunst.

Exkursionen ins Montafon und an den Bodensee

Das vielseitige Vortragsprogramm wurde durch zwei Exkursionstage aufgelockert. Im klassischen Fortbewegungsmittel des demokratisierten Reisens, dem Reisebus, ging es am Sonntag ins Montafon, wo Michael Kasper, der Leiter der dortigen Museen, anhand der Vorarlberger Ferienregion an verschiedenen Stationen kenntnis- und anekdotenreich die historische Entwicklung des Tourismus nachzeichnete. Der zweite Exkursionstag führte unter Begleitung des Konstanzer Autoren Patrick Brauns zu verschiedenen bekannten und weniger bekannten Orten des Bodenseetourismus. Nach fünf Tagen des abwechslungsreichen Programms waren sich viele Teilnehmer:innen einig: Es wird für sie nicht die letzte Reise nach Weingarten gewesen sein.