| Afrikagespräche
Kenia-Seminar in Weingarten

Wahrheit ist komplizierter

Menschen unterschiedlicher Herkunft können auf dieselben Probleme begründet sehr unterschiedliche Sichtweisen haben. Diese Erkenntnis hat sich im deutsch-afrikanischen Gespräch bestätigt.

Von Dr. Thomas Broch

Die Keniaseminare, bestehend seit 1991 und seit 2017 im Weingartener Tagungshaus der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart beheimatet, verstehen sich als Forum des Austauschs und des Netzwerks zwischen zumeist jungen Kenianerinnen und Kenianern und Vertretern deutscher NGOs und einzelner Personen, die lange und intensiv mit Kenia verbunden sind.

Das Besondere an den Keniaseminaren ist, dass sich die Rolle von Lehrenden und Lernenden umkehrt. Die Kenianerinnen und Kenianer – zumeist Stipendiat:innen des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes (KAAD) sind es, die ihre Expertise einbringen und den deutschen Gästen oft überraschend die Augen öffnen.

Spannend war daher – neben Vorträgen zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation in Kenia durch Dr. Christopher Omolo sowie zum öffentlichen Gesundheitssystem in Kenia durch Dr. (c) Phidelis Nasimiya Wamalwa – eine Diskussion zu politischen und ethischen Fragen, in denen zum Teil  ziemlich unterschiedliche Akzente gesetzt und sehr kontrovers diskutiert wurden. Einige Punkte seien exemplarisch aufgegriffen.

Die jüngeren kenianischen Generationen gehen mit dem Dekolonialisierungsthema pragmatisch um.

Die deutschen Diskutant:innen bezeichneten etwa die Dekolonialisierungsdebatte als dringend notwendig. Sowohl im Alltag als auch in aktuellen politischen Entwicklungen wie dem Streit um das Lieferkettengesetz oder der europäischen Migrationspolitik sahen sie einen immer noch latent oder manifest vorhandenen Rassismus. Die Gesprächspartner:innen aus Kenia sahen dies pragmatischer; sie blickten auch eher auf die koloniale Geschichte und nicht auf die Gegenwart: Dekolonisierung sei eher eine Fragestellung der älteren Generationen, in deren Erinnerung der Kampf um die Unabhängigkeit noch präsent ist. Den Jüngeren dagegen fehle diese historische Anknüpfung, sie hätten andere Prioritäten.

„Afrikanische“ und „westliche“ Werte?

Ob es einen Clash zwischen „westlichen“ und „afrikanischen“ Werten gebe, wurde gefragt. Ob man von universellen Werten sprechen könne und von solchen, die sich aus kulturellen Traditionen herleiten? Eine schwierige Frage, so wurde festgestellt – sei doch schon der Begriff der Kultur diskussionswürdig. Ferner: Was und wer ist „Afrika“? Auf jeden Fall ein riesiger Kontinent mit größter Vielfalt. Sind traditionelle afrikanische Moralvorstellungen eher aus einer naturbedingten Ordnung heraus zu verstehen, während das mit dem Christentum verbundene westliche Wertesystem übergestülpt ist? Das zeige sich etwa an einem traditionellen Bild der Familie und werde in der heftigen Auseinandersetzung um „westliche“ Einflüsse deutlich, die im Umgang mit LGBTQ-Community zum Ausdruck komme. Paradox dabei ist die Tatsache, dass viele dieser als „afrikanisch“ bezeichneten Werte durch die christlichen Missionar:innen ins Land kamen und heute als „traditionell“ erlebt werden, während dem „Westen“ vorgeworfen wird, er zerstöre mit seinem moralisch dekadenten Einfluss eben diese, gleichfalls konstruierte afrikanische Kultur.

Parlamentarismus und der Geist der Demokratie

Sind Demokratie und Menschenrechte „westliche“ Werte oder haben sie universelle Geltung, also auch in Afrika? Dass Demokratie als parlamentarisches System überall umsetzbar sei, daran wurden Zweifel geäußert. Konsens bestand allerdings darin, dass es universal gültige Werte gebe, die den Geist der Demokratie ausmachen und die in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von 1948 festgehalten sind. Sie betreffen den Kern des Menschseins: der grundsätzliche Respekt vor dem menschlichen Leben etwa und vor unterschiedlichen Lebensentwürfen, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und die Kinderrechte, das Verbot von Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und ethnischer Herkunft, die Gewissens- und Religionsfreiheit und anderes mehr.

Neue politische und wirtschaftliche Allianzen

Auch politische Fragen wurden diskutiert. So fand das Thema des Einflusses Chinas und Russlands auf dem afrikanischen Kontinent und dessen Hinwendung zu den so genannten BRICS-Staaten eine differenzierte Bewertung – auch bei den Teilnehmenden aus Kenia. Selbstverständlich bestehe etwa das Problem neuer politischer und wirtschaftlicher neokolonialer Abhängigkeiten, die Gefahr, in fremde Konflikte hineingezogen zu werden. Kritisch wird auch von den kenianischen Gästen gesehen, dass das Engagement der neuen Investoren an keine Menschenrechts- und Umweltbedingungen geknüpft ist. Auch könnten sich frühere Verbündete abwenden.

Betont wurde aber auch die Chance neuer Allianzen und neuer Möglichkeiten von Handel, Zusammenarbeit und kulturellem Austausch. Es könne zu einer win-win-Situation werden. Und: Die Beziehung zu diesen neuen Partnern sei nicht durch das Erbe der Kolonialgeschichte belastet.

Kriege in der Ukraine und „vor der Haustür“ in Gaza

Die Kriege in der Ukraine und der Israel-Palästina- bzw. Gaza-Konflikt? Selbstverständlich stehe Kenia auf der Seite derer, die sich für Humanität einsetzten, sagten die kenianischen Teilnehmenden. Aber der  Ukraine-Krieg ist für die Bevölkerung Kenias weit weg. Spürbar freilich wird er in der Unterbrechung von Versorgungsketten landwirtschaftlicher Produkte oder Öl, darüber hinaus im Einbruch des Tourismus. Nicht zuletzt bedrohen diese Kriege auch die Sicherheit im eigenen Land. Und der Krieg in Gaza, sozusagen „vor der Haustür“? Grundsätzlich, sagten die kenianischen Teilnehmenden, gelte ihre Sympathie eher denen, mit denen man in einer Unterdrückungsgeschichte verbunden sei.

Interaktiver Einstieg ins Thema
Vortrag von Phidelis Nasimiya Wamalwa
Mit allen...
Zwiegespräch