| Teilhabe und Soziales
Politische Bildung in Zeiten der Krise

Was hält die Gesellschaft zusammen?

Krieg da, Krieg dort, politischer Rechtsruck, Klima- und andere Krisen: Was hält uns in dieser „Zeitenwende" als Gesellschaft zusammen? Und was sind Aufgaben und Chancen der politischen Bildung?

Von Linda Huber

Die vielbeschworene „Zeitenwende", ausgelöst vom russischen Angriffskrieg, die drängenden Probleme der Klimakrise, die Wahlerfolge von Parteien, die in Teilen als klar rechtsextrem oder verfassungsfeindlich gekennzeichnet werden: Es erscheint kaum verwunderlich, dass zahlreiche Menschen das Gefühl haben, in krisenbelasteten Zeiten zu leben. Angesichts der „Polykrise“ stellen sich viele die Frage: Was hält uns als Gesellschaft zusammen?

Mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der evangelischen Akademie Bad Boll, der Landeszentrale für politische Bildung, der Stiftung Weltethos, der Muslimischen Akademie Heidelberg und dem Volkshochschulverband luden bedeutsame Akteure der politischen Bildung in Baden-Württemberg am 4. und 5. Oktober zur Tagung „Werteorientiert?! Politische Bildung in krisenbelasteten Zeiten“ ein. Politische Bildner:innen aus unterschiedlichen Feldern und Institutionen diskutierten, welche Werte unserem Miteinander zugrunde liegen und wie die demokratische Resilienz eines jeden Einzelnen und der gesamten Gesellschaft gestärkt werden kann.

Während die politische Bildungsarbeit wegen der geplanten Kürzungen bei der Bildungsförderung vor großen Herausforderungen steht, beschwören andere Stimmen sie als Allheilmittel gegen den politischen Rechtsruck und gegen eine Spaltung der Gesellschaft. Politische Bildung, so betonte Prof. Dr. Alexander Wohnig in seinem Impulsvortrag, sei aber keine Feuerwehr. Ebensowenig könne ihr Zweck allein in der Prävention gesehen werden. Letzteres impliziere schließlich, dass die Gegenwart als idealer Zustand zu erhalten sei. Doch wenn dem so wäre, würde das bedeuten, dass aktuelle Herausforderungen ein Problem seien, das von jedem und jeder Einzelnen zu lösen sei – schließlich wären die Rahmenbedingungen, sein Potenzial vollständig auszuschöpfen, theoretisch vorhanden. Von Individuen werde dann also gefordert, sich flexibel an die krisenförmige Umwelt anzupassen – nicht aber, dass die politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Systeme gerechter gestaltet würden.

Ziel der politischen Bildung sei es deshalb, ihre Teilnehmer:innen dazu zu befähigen, bestehende Strukturen kritisch zu hinterfragen. Sie eröffne einen Raum der positionierenden, engagierten Auseinandersetzung. Krisen dürften deshalb nicht einfach als Gefahr angesehen werden, die zum ohnmächtigen Erstarren führe, betont Wohnig. Sie böten vielmehr Denkanstöße und Gestaltungsmöglichkeiten: „Durch eine kritische Analyse kann ich angelernte Deutungsmuster auch ,verlernen‘“, sagte Wohnig: Warum steigt beispielsweise die Armut seit Jahren an? Wenn kein strukturelles, sondern ein individuelles Problem der Grund wäre, dann hätte das doch schon lange gelöst sein können – so wurden beispielsweise schon vor Jahren die Tafeln eingeführt, die arme Menschen unterstützen sollen. Der in vielen Köpfen verankerte Gedanke, freiwilliges Engagement allein könnte diese gesellschaftliche Herausforderung lösen, trügt also. Ohne eine Umverteilung des Vermögens, angestoßen durch politische und wirtschaftliche Veränderungen, würden weiterhin Menschen unter der Armutsgrenze leben, während andere übermäßigen Reichtum anhäufen, sagt Wohnig.

Genauso müsse man fragen, warum rechtspopulistische Parteien plötzlich so viel Zulauf finden. Das sei „kein Problem von einzelnen verirrten Rassisten“, sondern hänge auch mit Problemen der Repräsentation in einer Demokratie zusammen. Wer sich ausgeschlossen und ungleich behandelt fühle, setze sich auch nicht aktiv für die Demokratie ein, wird auf der Tagung mehrfach betont. Es seien Sichtbarkeit und der Glaube an die Gestaltbarkeit der Welt sowie an die Möglichkeit, das eigene Potenzial voll ausschöpfen zu können, die jede:n Einzelne:n sowie die Demokratie ,krisenfest‘ machen.  Entscheidend sei in der politischen Bildung deshalb eine rassismuskritische Perspektive. Derya Şahan, Fachreferentin in der Fachstelle Extremismusdistanzierung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg, forderte deshalb in ihrem Beitrag: „Demokratie muss für alle erlebbar gemacht werden.“ Dazu gehöre es auch, Machtstrukturen zu hinterfragen, die verhindern, dass alle gleichberechtigt am Diskurs teilnehmen können.

Wie es gelingen kann, Safer Spaces zu eröffnen, zeigten Maria Kechaja (adis e.V.) und Jasper Schmidt (Mosaik Deutschland e.V.) in ihrem Workshop zum Empowerment in der Jugendkulturarbeit. In diesen Räumen sollen Menschen Solidarität und Selbstwirksamkeit erleben sowie marginalisierte Perspektiven gemeinsam sichtbar machen und politische Teilhabe erringen.

Die Vielfalt der Gesellschaft kann dabei als wertvolle Ressource gesehen werden. „Alte Kategorien sind nicht mehr haltbar“, sagt Prof. Dr. Armina Omerika, Professorin für Ideengeschichte des Islam an der Universität Frankfurt und fordert auf, die Pluralität der Stimmen in unserer Einwanderungsgesellschaft nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance zu betrachten. So könnten beispielsweise religiöse Akteur:innen, die sich vor dem Hintergrund ihrer Glaubenserfahrungen gesellschaftspolitisch engagieren, neue Perspektiven zum Umgang mit der Polykrise eröffnen. Der Zusammenhang von Glaube und Klimaprotest und weshalb man sich als religiöser Mensch mit Aktivismus auseinandersetzen sollte, wurde am Nachmittag im Workshop von Zachary Gallant (GreenFaith e.V.) diskutiert.

Wie Schüler:innen ein Verständnis für die Ursachen und Auswirkungen von aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen sowie für Handlungsmöglichkeiten ausbilden können, zeigten auch die Workshops der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Gemeinsam mit Jasmin Wölbl von der Berghof Foundation stellte Dorothea Steinebrunner Ansätze der Friedensbildung vor. Dass man in der Medienbildung beispielsweise mit digitalen Escape Rooms demokratische Wertvorstellungen und politisches Verantwortungsbewusstsein vermitteln kann, machten Stefanie Hofer und Dominik Rehermann deutlich.

Weitere Angebote und Ansätze in der Bildungsarbeit der Veranstalter:innen konnten die Teilnehmer:innen am zweiten Tag im Rahmen eines Markts der Möglichkeiten kennenlernen. Wie ein wertebasiertes Miteinander in der Schule gestärkt werden kann, zeigten unter anderem die Akademie-Bildungsreferentin Stefanie Jebram anhand des AKSB-Projekts RespACT – Vielfalt leben. Haltung zeigen sowie Mathias Oppermann von „wordlab – das Labor für eine gelebte Demokratie“, einem Projekt der Stiftung Weltethos. Rund 90 Minuten konnten sich die Teilnehmer:innen außerdem an den einzelnen Stationen über Konfliktpotenziale, Safer Spaces und Ambiguitätstoleranzen austauschen oder diskutieren, inwiefern Bildungsträger wie eine evangelische oder muslimische Akademie religiöse Perspektiven in den Diskurs einbringen sollten.

In den Gesprächen sowie in der Abschlussdiskussion wurde eines deutlich: Die Werte, die unser gesellschaftliches Miteinander bestimmen, sind nichts Statisches. Sie müssen stets neu ausgehandelt, (ver-)lernt und gegebenenfalls verteidigt werden. Dabei ist es wichtig, dass alle am Diskurs teilnehmen und als Gesprächspartner:innen auf Augenhöhe agieren können. Werteorientierte politische Bildung kann entscheidend zur Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen – wenn sie Räume der kritischen Infragestellung und der Selbstermächtigung eröffnet. Die Frage nach den Werten ist damit eine, die bleibt. Angesichts der Pluralisierung der Gesellschaft muss sie immer wieder neu und aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt werden.