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Nachgefragt

Wenn Ungesagtes zur Sprache kommt

In „Unsere Nachkriegseltern“ nimmt die Historikerin Miriam Gebhardt die heute 50- bis 60-Jährigen in den Blick, denen erst jetzt aufgeht, was sie von ihren Eltern unterschwellig mitbekommen haben.

Von Paul Kreiner

Manche Erlebnisse, manche lebensprägenden Erinnerungen gibt die menschliche Seele erst nach Jahrzehnten frei. Und manche Treibmine in der Geschichte „normaler“, „gutbürgerlicher“ Familien explodiert erst nach einem halben Jahrhundert. Auf solche Zeiträume schaut die in Konstanz lehrende Historikerin Miriam Gebhardt. In ihrem Buch nimmt sie die Generation in den Blick, denen erst jetzt so langsam aufgeht, was sie von ihren Eltern an „Gefühlserbschaften“, an Vorstellungen zu Familie, Arbeit, Sexualität, Erziehung und zum Leben ganz allgemein unausgesprochen mitbekommen haben.

 

Eltern-Kind-Beziehungen im Zeichen der Zeit

Das war die Generation, die während der Nazi-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, und für die 1945 dann alles in Trümmer ging: Haus und Heimat, Beruf und Besitz, Eltern-Kind-Beziehungen. Denn so viele Väter kehrten aus dem Krieg nicht wieder heim. Und genau diese  Generation musste sich und das Land nachher wieder hocharbeiten, den „Wirtschaftsaufschwung“ stemmen. Man erwartete von ihr Sparsamkeit, Askese, ein Zähne-Zusammenbeißen in allen Lebenslagen. Diese Verlust- und Entbehrungsgeschichten, diese Botschaften haben diese Leute an ihre Kinder weitergegeben, an die – ihrer so großen Zahl wegen – so genannten Babyboomer. Und etliche von diesen zerbrechen jetzt daran, auch nach Jahrzehnten noch, oder gerade erst jetzt, wenn allmählich ihre eigene Arbeitsphase zu Ende geht, ihr lange aufrechterhaltenes Familienleben in die Krise gerät, wenn sie innehalten und sich fragen: Wie ist alles so weit gekommen?

Ihr Buch hat Miriam Gebhardt nun in der Akademie vorgestellt. Es ist keine Ansammlung sozialwissenschaftlicher Stastistiken („x Prozent der Deutschen haben erlebt, dass...“), sondern speist sich aus vielen einzelnen, authentischen Zeitzeugnissen, die sie im Deutschen Tagebucharchiv (Emmendingen) ausgegraben hat. Und Miriam Gebhardt, geboren 1962, erzählt auch immer wieder aus der eigenen Familiengeschichte. Vom Vater etwa, der zum Bergsteigen immer nur eine Zitrone mitnahm, mehr Flüssigkeit wollte er sich nicht gönnen, oder der eine Brille mit dem Argument ablehnte, das sei nur eine Verwöhnung für die Augen.

Gebhardt erzählt auch, was Vertriebene aufgeschrieben haben – und wozu das im eigenen und im Familienleben der Generation danach führte: dazu etwa, sich nicht allzu sehr an Materielles zu binden – weil man nie sicher sein konnte, wie lange man es behalten durfte. Oder es setzte sich ein dauerndes Gefühl der „inneren Unbehaustheit“ fest, das zu Rastlosigkeit, zu fortwährenden Wechseln auf der Suche nach „dem“ richtigen Lebensort führen kann.

 

Botschaft an die Babyboomer

„Wir haben ohne Unterlass gearbeitet, ihr müsst es genauso machen“, treibt nicht wenige Nachfahren in den Burnout. Wenn Töchter heute in den Spiegel schauen, sagt Gebhardt, sehen sie das Bild ihrer Mutter. Sie kriegen diese nicht los, auch wenn sie sich von ihr und ihren oft „seltsamen“ Gewohnheiten haben lösen wollen. Und da sind die unterschwelligen Konflikte: Typisch sei es gewesen, dass die „Nachkriegseltern“ ihre Kinder in sehr jungen Jahren bekamen, dass sie heiraten „mussten“, auch wenn es ihrer eigenen Lebensplanung widersprach, und dass gerade Frauen – ohne Hilfe von außen zu bekommen – gedrängt waren, ihre eigenen Bedürfnisse jahrzehntelang hintanzustellen, sich in Beruf und Haushalt doppelt abzurackern, die bürgerliche Fassade von der „glücklichen Familie“ aufrechtzuerhalten, mit all dem Leid und den unterschwelligen Aggressionen, die damit verbunden waren.

Die Botschaft an die „Babyboomer“-Kinder, sagt Gebhardt, sei demnach auch höchst widersprüchlich gewesen: Krieg‘ ein Kind, aber krieg‘ keines, weil sonst dein Leben kaputt geht; emanzipier‘ dich, aber emanzipier‘ dich nicht, sonst stellst du mich und mein Lebensmodell als Mutter in Frage. Kinder hätten durchaus gespürt, dass da „mit den Eltern irgendwas war“, irgendwas Schmerzhaftes; sie hätten aber auch nicht nachgefragt und lieber stillgehalten, um diesen Eltern nicht noch mehr Sorgen zu bereiten.

 

Tagebücher als Basis für ihre Forschung

Miriam Gebhardt hat sich bei ihren Forschungen auf Tagebücher konzentriert, weil sie diese, die ja unmittelbar zur Zeit der jeweiligen Erlebnisse verfasst wurden, für viel authentischer hält als heutige Interviews unter der Leitfrage: „Na, wie war das damals?“ Erinnerungen, sagt Gebhardt, je älter sie sind, überlagern sich, täuschen sich, speisen sich vielleicht eher aus Gelesenem als aus tatsächlich Widerfahrenem. In Allensbach-Umfragen, sagt die Professorin, zeige sich über viele Jahrzehnte hinweg ja eine deutsche Konstante: Zwei Drittel der Befragten bezeichnen ihre Kindheit als glücklich. So viele Menschen also wollten sich ein harmonisches Bild aus dieser Zeit bewahren, schließt Miriam Gebhardt daraus. Sie hat den schweren Verdacht: es war in vielen Fällen anders.

Mit Zahlen kann und will sie aufgrund ihrer Forschungsmethode nicht aufwarten; objektivierbar ist da nichts. Aber die Lebenszeugnisse der einen können in anderen Menschen Resonanzen erzeugen, etwas zum Sprechen bringen, was allzu lange nicht besprochen, vielleicht nicht einmal erkannt werden konnte. Und vielleicht steckt im Reden, bei Bedarf, ja auch Heilung.

Die Historikerin und Buchautorin Miriam Gebhardt.