| Dr. Verena Wodtke-Werner | Kirche und Gesellschaft

„Wir sehen eine drohende Kernschmelze“

Diese Krise ist existenziell. Selbst Menschen, die sich schon lange in der Kirche engagieren, verlieren den Glauben an ihre Reformfähigkeit, warnt der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes.

Von Miriam Hesse

Dass in jeder Krise auch die Chance auf Erneuerung steckt, diese feste Überzeugung hat der Stuttgarter Stadtdekan, Monsignore Christian Hermes, bei allem Frust nicht verloren. Nur „allergrößte Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit“ etwa bei der Aufklärung und Aufarbeitung des allzu oft von oben gedeckten Missbrauchssystems könnten der katholischen Kirche jetzt noch helfen, sagte Hermes im Gespräch mit der Akademie-Direktorin Verena Wodtke-Werner. Allerhöchste Zeit für eine Umkehr sei es jedenfalls, denn selbst Menschen, die sich stark für die Kirche engagierten und sich ihr sehr verbunden fühlten, „wollen das nicht mehr mitmachen“: „Wir sehen eine drohende Kernschmelze.“ Als Delegierter des Synodalen Weges glaube er an den Reformprozess und – sollte dieser gelingen – „habe ich die irre Hoffnung, dass wir vielleicht sogar Standards setzen können“, erklärte er bei der Abendveranstaltung Mitte Februar.

Ein steiniger Weg

Der Weg dahin dürfte allerdings steinig werden. Schließlich seien nicht nur unter den deutschen Klerikern Reformunwillige und Unbelehrbare, so Hermes' Einschätzung auf die Frage eines Teilnehmers nach möglichen Blockaden aus Rom: „In den römischen Köpfen lebt der Absolutismus weiter.“ Dabei entspreche eine absolutistische Kirchenhierarchie gar nicht dem Evangelium, betont Hermes: „Kirche ist ein gemeinsames Den-richtigen-Weg-finden.“ Mehr Partizipation – etwa eine Mitsprache gewählter Vertreter der Gläubigen und Priester bei der Bischofswahl – sei deshalb zwingend notwendig, berichtet der 51-Jährige, der im Synodalforum „Macht und Gewaltenteilung“ vertreten ist, über eine Richtungsentscheidung, die bei der Dritten Sitzung des Synodalen Weges fiel. Und sie bewegt sich also vielleicht doch – die Kirche: „Die Stimmung ist gedrückt, aber auch gespannt.“

Orientierung statt Bevormundung

Die kirchliche Grundordnung müsse dringend dem staatlichen Arbeiterecht angepasst werden. Dies sei vor allem bei verkündungsfernen Berufen vollkommen unproblematisch, so der Kirchenrechtler. Der Zölibat müsse geöffnet werden, fordert Hermes. Und in Sachen Sexualmoral solle sich die Kirche möglichst ganz zurückhalten: „Menschen suchen Orientierung für ihre Partnerschaft, keine Bevormundung.“

Weniger zuversichtlich ist Hermes beim Thema Missbrauchsskandal, sollte die Kirche weiter die Aufklärung und Aufarbeitung ganz mit sich ausmachen wollen. „Systemträger können keine Systemsprenger sein“, erklärt die Akademie-Direktorin Wodtke-Werner. „Wir sehen hier eine Korrumpiertheit der Kirche“, pflichtet Hermes bei. Der Staat habe hier viel zu zurückhaltend agiert: „Notfalls muss und darf er in die Selbstbestimmtheit der Kirche eingreifen.“ Wenn hochrangige Kirchenvertreter nun versuchten, sich aus der Verantwortung zu stehlen oder diese über gemeinsame Schuldbekenntnisse sozialisieren wollten, sei das verheerend, betont er: „Schuld sind die Schuldigen. Punkt.“

Der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes fordert zügige Reformen.
Rund 250 TeilnehmerInnen hörten das Gespräch zwischen Stadtdekan Hermes und der Akademie-Direktorin Verena Wodtke-Werner (links, Zweite von oben) und diskutierten per Chat mit.